Gütersloh. Fachkräfte werden händeringend gesucht. Dabei werden heute schon viele Fachkraftstellen von Menschen ohne formale Qualifikation erfolgreich ausgefüllt. Diese ungelernten Fachkräfte verdienen allerdings deutlich weniger als ihre qualifizierten Kollegen. Außerdem befürchten sie Nachteile beim Jobwechsel, weil sie ihre Fähigkeiten nur schwer nachweisen können. Mit einer neuen Anerkennungskultur wäre ihnen geholfen und der Fachkräftemangel gelindert. Die Bertelsmann Stiftung gab hierzu eine Empirische Wirtschaftsforschung in Aufrtag.
Rund 21 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten auf Stellen, für die sie nicht die erforderliche formale Qualifikation mitbringen. Sie sind „formal unterqualifiziert“. So übernimmt mehr als jeder zweite Arbeitnehmer ohne Ausbildungsabschluss (54 Prozent) Tätigkeiten von gelernten Fachkräften. Aber auch fast jede fünfte gelernte Fachkraft übt Tätigkeiten auf Meister- oder Akademikerniveau aus.
Ihre Fähigkeiten hierzu erlangen sie informell am Arbeitsplatz oder durch Weiterbildungen ohne formalen Abschluss. Auf ihren Stellen leisten sie häufig die gleiche Arbeit wie ihre formal entsprechend qualifizierten Kollegen. Ein gutes Viertel aller angestellten Männer arbeitet über ihrem formalen Qualifikationsniveau, bei den Frauen sind es 16 Prozent. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung der Ruhr-Universität Bochum im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.
Für den Geldbeutel der betroffenen Arbeitnehmer hat dies unmittelbare Konsequenzen: Wer ohne formale Qualifikation eine höherwertige Tätigkeit ausübt, erhält zwar häufig einen höheren Lohn als Gleichqualifizierte. Im Vergleich zu ihren formal adäquat qualifizierten Kollegen haben sie allerdings einen Lohnabschlag von 7 bis 11 Prozent. So verdient eine ungelernte Fachkraft zum Beispiel durchschnittlich 9 Prozent weniger als ihre Kollegen mit Ausbildungsabschluss. Für Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, ist deshalb klar: „Das Know-how und Fachwissen von ungelernten Fachkräften wird nur unzureichend anerkannt.“
Mehrheit der Ausbildungslosen arbeitet als Fachkraft
Schon heute arbeitet jeder zweite Arbeitnehmer ohne Ausbildungsabschluss auf einer Stelle, für die normalerweise eine Ausbildung erforderlich ist. In den ausbildungsstarken Branchen Handwerk und Handel wird schon jede zehnte Fachkraftstelle von einer Person ohne Ausbildung ausgeübt. Diese ungelernten Fachkräfte kompensieren die fehlenden Formalia nicht selten durch langjährige Berufserfahrung, besondere Softskills und hohe Lernbereitschaft. Das zeigt sich auch daran, dass sie häufiger in interaktiven und analytischen Tätigkeiten arbeiten, in denen hohe Kommunikations- und Problemlösungsfähigkeiten gefragt sind. „Die Betriebe profitieren von den Fähigkeiten ungelernter Fachkräfte“, so Dräger. Er fordert deshalb, den Betroffenen den Weg zu einem formalen Vollabschluss zu erleichtern.
Eine neue Anerkennungskultur ist notwendig
Der hohe Anteil von Arbeitnehmern, die über ihrer formalen Qualifikation beschäftigt sind, deckt sich mit der Einschätzung von Personalabteilungen und Vorgesetzen, dass die on-the-job erworben Fähigkeiten die wichtigste Kompetenzquelle im Betrieb sind. Für Studienabbrecher oder Ausbildungslose ist das zunächst eine positive Nachricht. „Praxiswissen ist für die persönliche Entwicklung im Unternehmen die wichtigste Währung, bei Bewerbungen wird aber trotzdem vor allem auf den Abschluss geschaut,“ analysiert Dräger die geringere Arbeitsplatzmobilität von ungelernten Fachkräften.
So empfinden es laut der vorliegenden Untersuchung auch die Betroffenen. Sie sind pessimistischer als ihre qualifizierten Kollegen, eine zumindest gleichwertige Stelle bei einem neuen Arbeitgeber zu finden. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Arbeitnehmer ohne formales Zertifikat im Vergleich zu ihren qualifizierten Kollegen beim Arbeitsplatzwechsel verschlechtern – wodurch wichtiges Humankapital volkswirtschaftlich ungenutzt bliebe. Für Dräger ist deshalb klar: „Wir brauchen eine neue Anerkennungskultur für Fähigkeiten, die on-the-job erworben wurden. Das ist gerecht und volkswirtschaftlich sinnvoll.“
Unterqualifizierte können ihre informell erworbenen Kompetenzen nur dann zur Verbesserung ihrer Arbeitsmarktchancen nutzen, wenn sie auch formal anerkannt werden. Anerkennungs- und Qualifizierungsverfahren sollten deshalb an beruflichen Tätigkeitsfeldern (zum Beispiel Ausbildungsbausteine) ansetzen. Bereits bestehende Fähigkeiten können so leichter erfasst und ergänzt werden – möglichst mit dem Ziel eines Vollabschlusses. Gerade mit Blick auf erfahrene Arbeitnehmer macht Dräger deutlich: „Die Anerkennung der beruflichen Kompetenzen ist auch eine Anerkennung von Lebensleistung.“
Zusatzinformationen
Die vorliegenden Ergebnisse wurden von Prof. Bauer und seinen Mitarbeitern des Lehrstuhles für Empirische Wirtschaftsforschung der Ruhr-Universität Bochum berechnet. Sie basieren auf repräsentativen Stichproben der deutschen Wohnbevölkerung. Zur Identifikation der formalen Unterqualifikation wurde der Bildungsstand von Befragten des Sozio-oekonomischen Panels mit den Anforderungsniveaus ihrer Berufe verglichen, die sich aus der Klassifikation der Berufe von 2010 (KldB 2010) ablesen lassen.