Über 10.000 Flüchtlinge in anderthalb Jahren untersucht

Ein Großteil der medizinischen Erstuntersuchung nach dem Asylverfahrensgesetz erfolgt im Kreis Lippe durch das kommunale Klinikum – es ist die einzige somatische Akutklinik in dem Kreis mit 347.000 Einwohnern. Nach über 10.000 Untersuchungen verfügt das Klinikum inzwischen über eine ausgewiesene Expertise in der optimalen Durchführung von Erstuntersuchungen auch für große Gruppen und hat sogar eine eigene Flüchtlingsambulanz etabliert.

Mit einem Anruf im Sommer 2014 fing alles an. Um zehn Uhr abends meldete sich die Zentrale Unterbringungseinrichtung in Detmold in der Notaufnahme des Klinikums: Erstmals seien zwei Busse mit etwa 100 Flüchtlingen aus der ZAB in Unna angekommen, davon seien drei Flüchtlinge am Ende ihrer Kräfte. Um Mitternacht wurden die Patienten ohne Dolmetscher in der Notaufnahme so gut es ging versorgt. Und das Klinikum Lippe stand nun vor der Frage, ob solche besonderen Notfälle nun häufiger passieren würden. „Ja“, da waren sich alle einig. Und beschäftigten sich fortan intensiv mit der Frage, wie man für solche Situationen vorsorgen und den Flüchtlingen eine bestmögliche medizinische Versorgung bieten kann.

Tatsächlich gab es in den folgenden Wochen immer mehr Anfragen aus den Unterbringungseinrichtungen im Kreis Lippe. Die Menschen saßen dort ohne Erstuntersuchung fest. Eine schwierige Situation, denn diese Untersuchung ist eine Voraussetzung dafür, dass die Flüchtlinge auf die Kommunen weiterverteilt werden können. Das Klinikum sah sich zu einem Großeinsatz herausgefordert: Hunderte zu untersuchende Flüchtlinge sollten an einem Samstag im September 2014, außerhalb des normalen Routinebetriebes, die erforderliche Erstuntersuchung erhalten. Schnell wurde klar, dass das nur mit einer sehr guten Administration funktionieren kann.

Administration spielt eine große Rolle

„Die eigentliche Herausforderung ist nicht die Untersuchung selbst sondern das administrative Drumherum“, erläutert Helmut Middeke, Medizinischer Geschäftsführer des Klinikums Lippe. Neben Ärzten und Pflegekräften waren auch die Leitungen der Patientenaufnahme, der Abrechnung und des Patientenservices in die Vorbereitungen eingebunden.

Schon der erste Untersuchungstag lief reibungslos, da war sich das Team aus Administration, Pflegekräften, Ärzten und MTRAs einig. Auch die anschließende Abrechnung der erbrachten Leistungen mit der damals zuständigen Bezirksregierung Arnsberg lief unkompliziert. Ab Dezember 2014 wurde ein fester Wochentag für die medizinische Erstuntersuchung der Flüchtlinge implementiert. Bis November 2015 fanden die Untersuchungen jeden Donnerstagabend in den Räumlichkeiten der Allgemeinchirurgischen Ambulanz nach deren Betriebsschluss statt. Während es sich anfangs um ca. 80-120 Flüchtlinge pro Abend handelte, hat sich die Zahl ab Sommer 2015 massiv gesteigert – bis zu 300 Erstuntersuchungen pro Abend wurden inzwischen durchgeführt.

Bei der Versorgung der Flüchtlinge kann das Klinikum Lippe auf das Engagement seiner Mitarbeiter zählen: Die Erstuntersuchungen werden von einem Pool freiwilliger Fachkräfte aus den Bereichen Medizin, Pflege, MTRA und Administration unter der Federführung der Zentralen Notaufnahme durchgeführt. Etwa 30 Mitarbeiter gehören dazu, weitere 20 stehen auf einer Warteliste und werden nach und nach in die bewährten Abläufe eingearbeitet.

Die Tätigkeit erfolgt außerhalb der regulären Arbeitszeit der Mitarbeiter und wird selbstverständlich vergütet. Damit bis zu 300 Personen in der sehr komprimierten Zeitspanne untersucht werden können, müssen pro Abend bis zu 14 Mitarbeiter des Klinikums im Einsatz sein, hinzu kommen externe Ordnungskräfte. Voraussetzung ist eine sehr stringente interne Administration. Nur dadurch kann gewährleistet werden, dass jeder Flüchtling von einem Arzt untersucht wird.

Eigene Flüchtlingsambulanz eingeweiht

Nach 17 Monaten medizinischer Erstuntersuchungen im Klinikum Lippe lässt sich eines klar festhalten: Maßgeblich für den optimalen Ablauf der Erstuntersuchungen ist neben der betriebsinternen Expertise der Klinik eine suffiziente Kooperation, Koordination und Kommunikation mit den Betreibern der Flüchtlingsheime. An banalen Dingen wie einer validen Liste der Patienten und der Organisation der Transporte entscheidet sich die Ressourcenbindung des Klinikums.

Seit November 2015 verfügt das Klinikum über eine Flüchtlingsambulanz mit erweiterten Öffnungszeiten. Das erleichtert die Abläufe enorm. Zum einen können die Flüchtlinge schneller behandelt werden, zum anderen hat es sich bewährt, eigene Räume für die Untersuchungen bereitzustellen, da für die Abendtermine immer umfangreiche Auf- und Abbauarbeiten nötig waren, weil die Räume tagsüber anderweitig genutzt werden mussten. Auch aus medizinischer Sicht sind die erweiterten Öffnungszeiten von Vorteil, denn abnorme Testergebnisse im Rahmen der Erstuntersuchung bedingen weitere Leistungen, die nunmehr im Rahmen der Flüchtlingsambulanz organisiert werden können.

Separate Strukturen helfen im Klinikalltag

Für das Klinikum Lippe hat es sich als äußerst zielführend erwiesen, für den Bereich der Flüchtlingsmedizin separate Strukturen im Klinikalltag zu schaffen. Denn die Durchführung der Erstuntersuchungen in den Notaufnahmen ist auf keinen Fall zu realisieren.

Aufgrund der immer noch notdürftigen medizinischen Versorgung in den Flüchtlingslagern stellten sich immer mehr Flüchtlinge mit Bagatell-Symptomen, aber auch chronischen Erkrankungen in unseren Notaufnahmen vor. Damit einher geht eine sehr hohe Personalbindung, die durch Sprachbarrieren verschärft wird. Damit werden Ressourcen, die für die eigentlichen Notfallpatienten vorgesehen sind, blockiert. Durch die inzwischen frühzeitige und regelmäßige Durchführung der Erstuntersuchungen konnten diese Phänomene auf ein Minimum reduziert werden.

Die Flüchtlingsambulanz im ehemaligen Kreislauflabor liegt etwas abseits des regulären Klinikbetriebs und verfügt über einen eigenen Außeneingang mit Parkplatz. Die Ambulanz hat eine Anmeldung, einen Wartebereich, drei Behandlungszimmer und einen Blutentnahmeraum. Organisatorisch ist die Flüchtlingsambulanz den Zentralen Notaufnahmen des Klinikums zugeordnet. Das direkt in der Flüchtlingsambulanz tätige Personal muss die Bereiche Administration, Arztdienst und Pflege abdecken. Wöchentlich können derzeit bis zu 400 Flüchtlinge erstuntersucht werden. Die Mithilfe insbesondere arabisch sprechender Ärztinnen und Ärzte erleichtert die Durchführung der Untersuchungen, ist aber kein Muss.

Die Flüchtlingsambulanz ist für die Flüchtlingsunterkünfte unter einer zentralen Rufnummer zu erreichen. Ihre Hauptaufgabe ist eine reibungslose Organisation und Durchführung der Medizinischen Erstuntersuchung gemäß §62 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sowie die Koordination einer entsprechend notwendigen Nachbehandlung. Deshalb versteht sich die Flüchtlingsambulanz eindeutig nicht als Konkurrenz zur niedergelassenen Vertragsärzteschaft. Letztere hat die medizinische Versorgung in den Flüchtlingsunterkünften des Kreises übernommen.

Aber auch nach der umfangreichen Erfahrung bleiben Fragen für die Zukunft: Wie erfolgt künftig die ambulante medizinische Versorgung derjenigen Flüchtlinge, die bereits den Kommunen zugewiesen wurden und nicht mehr in den Unterbringungseinrichtungen leben? Der Sicherstellungsauftrag im ambulanten Bereich gibt eine klare Antwort vor. Allerdings haben schon mehrere allgemeinmedizinische Praxen des ländlichen Kreises Lippe diesbezüglich auf Ihre Kapazitätsgrenzen verwiesen.

Checkliste: Exemplarischer Ablauf einer Erstuntersuchung (Inklusive Vor- und Nachbereitung)

• Personaleinsatzplanung

o Arztdienst, Pflege, Administration, MTRA o Vorhalten eines Dermatologen/ Dermatologin während des Untersuchungsfensters (Arztdienst Dermatologie arbeitet außerhalb der Regelarbeitszeit lediglich im Rufdienst)

• Logistik und Koordination mit den Betreibern der Flüchtlingsheime

• Reservierung der Röntgenkapazität (Rö.-Thorax bei allen Patienten über 15 Jahren)

• Einpflegen aller gemeldeten Daten (Flüchtlinge) in das KIS (im Vorfeld der Gesamtuntersuchung)

• Materialbestellungen (Medikamente, Einmalmaterialien, Diagnostiktests usw.)

• Vorbereiten der Räumlichkeiten

• Umleitung des Publikumsverkehrs (Besucher, Patienten) bei Aufrechterhaltung des Regelbetriebs

• Logistik der eintreffenden Flüchtlinge (Willkommenskultur, Angstabbau, Muttersprachler bereithalten)

• Durchführung der Medizinischen Eingangsuntersuchung (gemäß §62 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG)

o Organisation der Nachbehandlung bei direkten Auffälligkeiten (breites Spektrum von sofortiger stationärer Aufnahme mit Isolation bis zur Koordination der anschließenden allgemeinmedizinischen Weiterbehandlung)

• Nachbereitung der Räumlichkeiten, Nachbestellungen aufgeben

• Auswertung der Röntgen-Thorax-Aufnahmen

• Auswertung des TBC-Screening-Labortests (Quantiferon, Tuberkulin)

o bei positivem Befund sofortige Organisation/ Koordination weiterer Maßnahmen,

• Nachbereitende Dokumentation, Ausstellen der Unbedenklichkeitsbescheinigung

• Rechnungserstellung und Abrechnung mit der Bezirksregierung Arnsberg (seit dem 1.10. über die KVWL, was eine wesentlich höhere Belastung für Administration und Abrechnungs- abteilung zur Folge hat, da Papiervordrucke der KV Verwendung finden). teilweise Meldepflicht gegenüber ÖGD

www.textwerk-lippe.de

Veröffentlicht von

Sascha Brinkdöpke

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