Halle (dapd). Der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hat die umstrittenen Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 zu ihrem zehnten Jahrestag verteidigt. Die Agenda sei richtig gewesen, sagte Müntefering am Donnerstag im Hörfunksender MDR Info laut einer Vorabmeldung. „Arbeitsplätze fehlten, das Geld fehlte, es wurde zu wenig investiert in Bildung und Entwicklung.“ Eine große Reform sei nötig gewesen. Deutschland stehe inzwischen im internationalen Vergleich gut da. Zur Agenda gehörte die umstrittene Einführung von Hartz IV. Zugleich räumte Müntefering Mängel an dem Reformwerk ein. Er sah Handlungsbedarf beim Mindestlohn und dem Thema Leiharbeit. Die aktuelle Forderung nach einem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde sei nur ein Anfang. Müntefering sprach sich für ein Mindestlohnmodell nach britischem Vorbild aus. Dort spielt eine unabhängige Kommission eine maßgebliche Rolle bei der Berechnung. Die aktuelle SPD-Forderung sei „ganz klar der Einstieg in das Konzept mit der Perspektive, in Zukunft von einer Kommission diese Dinge entscheiden zu lassen und das nicht zum Gegenstand von Wahlkämpfen zu machen.“ Angesichts des Lobes für die Agenda-Politik hielt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge von der Universität Köln dagegen. Die Agenda sei der Grund für seinen damaligen Austritt aus der SPD gewesen. Die Partei sei unter Kanzler Gerhard Schröder ihrem Ideal der sozialen Gerechtigkeit untreu geworden, sagte Butterwegge. Die Agenda habe dies gezeigt. „Denn in ihr hat Gerhard Schröder den Bruch mit dem bisherigen Sozialstaat verkündet.“ dapd (Politik/Politik)
Schlagwort: agenda
Zehn Jahre danach: Agenda 2010 sorgt weiter für Unbehagen
Berlin (dapd). Zehn Jahre, nachdem der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Eckpunkte der Agenda 2010 im Bundestag vorstellte, ist das Unbehagen über die Arbeitsmarktreform weiter hoch. Die Grünen, die die Agenda 2010 in ihrer Regierungszeit mit beschlossen hatten, kündigten im Falle eines Wahlsiegs eine Korrektur der Reform an. Und die Linke legte am Mittwoch Eckpunkte für eine „Agenda für soziale Gerechtigkeit“ vor. Der ehemalige Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) verteidigte das Reformpaket dagegen. Am 14. März 2003 hatte Schröder im Bundestag ein umfassendes Reformprogramm vorgestellt. Dazu gehörten Flexibilisierungen beim Kündigungsschutz, Einschnitte beim Arbeitslosengeld sowie die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Müntefering lobte das Reformpaket von damals. „Es war richtig, dass wir es gemacht haben. Deutschland hatte in den 90er Jahren die Zeit verpennt“, sagte Müntefering dem Sender Phoenix. Für den Bereich der Leiharbeit räumte er allerdings Fehlentwicklungen ein. „Das Übel war, dass uns einige im Unternehmerlager betrogen haben, die dann nicht mehr die Löhne gezahlt haben, vergleichbar denen, die ihre anderen Arbeitnehmer haben. So war das nicht gemeint“, fügte Müntefering hinzu. Deutlich kritischer äußerten sich die Grünen anlässlich des Jahrestags. Die Agenda sei im Gesamtergebnis „unausgewogen“ gewesen, schreiben die beiden Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin in einem Gastbeitrag der „Zeit“. „Wir brauchen dringend einen Mindestlohn, eine Begrenzung der Minijobs, eine klare Equal-Pay-Regelung für Leiharbeit und deren Begrenzung auf den Zweck, Auftragsspitzen abzufedern“, heißt es darin weiter. Viele Aussagen über die Agenda seien „Mythen“, schreibt das grüne Spitzenduo. So seien nicht die Sozialreformen der damaligen rot-grünen Bundesregierung Ursache des heutigen wirtschaftlichen Erfolgs Deutschlands, es sei vielmehr die Stärke der deutschen Exportwirtschaft. Linksfraktionschef Gregor Gysi erinnerte am Mittwoch in Berlin daran, dass der Widerstand gegen die Agenda 2010 der Gründungskonsens der Linkspartei gewesen sei. Nun sei die Linke die erste Partei, „die als erste messbare Ziele für eine Rückabwicklung der verheerenden sozial- und verteilungspolitischen Folgen“ definiere. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit werde eine der zentralen Fragen des Bundestagswahlkampfs werden. Besonders kritisch bewertet die Partei nach wie vor die Einführung von Hartz IV. Linke-Vorsitzende Katja Kipping verwies darauf, dass dies nicht nur ein Angriff auf die Lebensverhältnisse von Erwerbslosen gewesen sei, sondern auch auf das Lohngefüge insgesamt. „Gute Arbeit, gerechte Löhne, Rente, die vor Armut schützt und den Lebensstandard sichert, soziale Grundrechte: das sind keine Utopien, sondern das sind realisierbare Ziele“, sagte sie bei der Vorstellung der Forderungen ihrer Partei. Danach befragt, warum die Linke trotz der Kritik an Agenda 2010 und Hartz IV dennoch keinen Komplettumbau des Systems mit beispielsweise einer Rückkehr zur Arbeitslosenhilfe fordere, antwortete Kipping: „Wenn wir die Mindestsätze auf mindestens 500 Euro erhöhen, wenn wir die Sanktionen abschaffen und wenn wir die Bedarfsgemeinschaft bei Berücksichtigung der Unterhaltsansprüche aufheben, dann kann man nicht mehr von Hartz-IV-System sprechen.“ Insgesamt betrachten die Deutschen die Agenda-Politik von damals mit gemischten Gefühlen. In einer Umfrage für das Magazin „Stern“ erklärten 44 Prozent der Bürger, die Agenda sei alles in allem „eher gut“ für Deutschland gewesen. 43 Prozent hingegen meinten, die vor allem wegen Hartz IV umstrittene Reform habe sich „eher schlecht“ für das Land ausgewirkt. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) nannte die Agenda-Reformen hingegen überschätzt. „Die Agenda ist nur die Rückkehr zu dem schwarz-gelben Reformkurs, den Schröder 1998 nach seinem Wahlsieg beseitigt hat“, sagte Schäuble der „Passauer Neuen Presse“. Schwarz-Gelb habe bis zum Jahr 1998 bereits wichtige Reformen auf den Weg gebracht, unter anderem den demografischen Faktor in der Rente. dapd (Politik/Politik)
Ökonomen fordern Reformen im Sozialsystem
Berlin (dapd). Zehn Jahre nach der Verkündung der umstrittenen Agenda 2010 fordern Ökonomen und Politiker neue Reformen im deutschen Sozialsystem. „Deutschland ruht sich auf seinem wirtschaftlichen Erfolg aus. Das ist brandgefährlich und wird uns in spätestens fünf Jahren vor die Füße fallen, wenn das demografische Chaos ausbricht“, sagte der Direktor des Instituts der Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann, der „Welt am Sonntag“. Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) fordert in der „Bild-Zeitung“ eine Agenda 2020. Der „Wirtschaftsweise“ Christoph Schmidt sieht eine Dekade nach Einführung der Agenda 2010 eine Reformmüdigkeit in Deutschland. „Das Bewusstsein, dass es auch nach der Agenda 2010 noch einen großen Reformbedarf gibt, scheint in der Politik mehr und mehr abhandenzukommen“, sagte der Chef des Wirtschafts-Sachverständigenrats der „Welt am Sonntag“. IZA-Chef Zimmermann sieht ebenfalls noch viele unerledigte Aufgaben. Im Gesundheits- und Pflegesystem bestehe genauso Reformbedarf wie bei der Rente. „Die Rente mit 70 ist unabdingbar.“ Die Ökonomen fordern deshalb eine Weiterentwicklung der Agenda-Reformen. Schmidt mahnte eine Lockerung des Kündigungsschutzes an. Um die Ausgaben der Krankenkassen im Griff zu behalten, schlägt er eine Beteiligung der Patienten an den Kosten bis zu einem festzulegenden Höchstbeitrag vor. Der frühere Bundeskanzler Schröder sieht die Notwendigkeit einer neuen Agenda 2020. „Deutschland kann seinen Vorsprung gegenüber aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Brasilien und China nur verteidigen, wenn wir hart an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten“, sagte er der „Bild“-Zeitung (Montagausgabe). Nur wenn dies gelinge, gebe es „genug Arbeit, können Renten bezahlt werden, kann es gute Schulen und Straßen geben“. Als wichtigste Vorhaben nannte Schröder Investitionen in Forschung und Bildung. Wegen des demografischen Wandels seien gute Bildung und Betreuung wichtig. Spitzenpolitiker der SPD verteidigten die umstrittenen Reformen der Agenda 2010. Nach Auffassung von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier bewahrten sie Deutschland vor einem wirtschaftlichen Niedergang. „Wenn Schröder damals so mutlos regiert hätte wie Angela Merkel (CDU) heute, stünden wir jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größeren Problemen inmitten der Eurokrise“, sagte Steinmeier der „Süddeutschen Zeitung“. Steinmeier, damals in Schröders Kabinett Kanzleramtschef, nannte die Agenda einen „Ausbruch aus der Abwärtsspirale“, in der sich Deutschland vor zehn Jahren befunden habe. In der „Super-Illu“ erinnerte er daran, dass die Durchsetzung der Reformen „ein gewaltiger Kraftakt“ gewesen sei. „Es war ein Programm mit Härten für die Menschen, das ist wahr. Aber rückblickend sage ich: Gott sei Dank haben wir unsere Hausaufgaben gemacht, bevor die große Krise kam.“ Der Fraktionsvorsitzende räumte ein, dass die Agenda auch zu Auswüchsen geführt habe. Die Leiharbeit bezeichnete er zwar als notwendig. Man habe sich allerdings „nicht vorstellen können, dass einzelne Unternehmen große Teile ihrer Stammbelegschaften durch Leiharbeiter ersetzen“. Das müsse korrigiert werden. Zudem wäre es besser gewesen, wenn man parallel zu den Arbeitsmarktreformen einen Mindestlohn eingeführt hätte. „Die Agenda 2010 war sehr erfolgreich, aber es wird zehn Jahre nach ihrer Ankündigung immer noch viel Falsches darüber erzählt“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel dem „Focus“. Die Agenda habe das erste Ganztagsschulprogramm gestartet, den Durchmarsch der erneuerbaren Energien ermöglicht und das System von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt. „Diese ganzen Reformen waren richtig“, betonte Gabriel. Die rot-grüne Regierung habe „damit den Industriestandort Deutschland gestärkt“. Die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, kritisierte dagegen die Agenda 2010 scharf. Die Agenda habe viele Menschen in die Armut gestürzt und die Ausbeutung von Millionen Arbeitnehmern ermöglicht. Steinmeiers Kritik an Merkel, im Vergleich zu Schröder mutlos zu regieren, sei mit einer „Sehnsucht nach einer großen Koalition zur Zerstörung des Sozialstaats“ zu erklären. dapd (Politik/Politik)