Bielefeld – Am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bielefeld nehmen Studierende an einem digitalen Austauschprogramm teil. Mit ihren schwedischen und bulgarischen Kommilitoninnen und Kommilitonen diskutieren sie die globale Ausrichtung der Sozialen Arbeit und profitieren von der internationalen Zusammenarbeit. Gemeinsam besucht die Gruppe im Mai sogar die schwedische Universitätsstadt Göteborg.
877 Kilometer. So weit ist Bielefeld von der schwedischen Universitätsstadt Göteborg entfernt. Für Saskia Niebuhr sind es gerade mal 30 cm; der Abstand zwischen ihr und ihrem Bildschirm. Denn die Studentin nimmt an einem Seminar des Fachbereichs Sozialwesen der Hochschule Bielefeld (HSBI) teil, das einen Austausch zwischen schwedischen und deutschen Studierenden ermöglicht, und zwar ganz virtuell. Gemeinsam bespricht sie mit ihren internationalen Kommilitoninnen und Kommilitonen globale Herausforderungen in der Sozialen Arbeit. Aber auch Krisen wie die Corona-Pandemie werden behandelt.
Ein digitales Austauschprogramm mit Rundumversorgung: „Damit sind wir an der HSBI absoluter Vorreiter!“
Begonnen hat alles mit der Corona-Pandemie. 2020 wollen Studierende des Fachbereichs Sozialwesen an einem Austausch nach Schweden teilnehmen. Doch die Reisebeschränkungen durch die Pandemie macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Hochschuldozentin Prof. Dr. Anna Lena Rademaker macht daraufhin aus der Not eine Tugend: Gemeinsam mit ihren schwedischen Kolleginnen stellt sie die gesamte Organisation auf ein digitales Format um.
Zu Beginn haben nur Bachelorstudierende aus Bielefeld und Göteborg an dem Seminar „Social Work in Times of Crisis“ teilgenommen. Seit dem Wintersemester 2022 ist auch die Universität der bulgarischen Hauptstadt Sofia mit von der Partie. „Die Studierenden sollen vergleichen, wie andere Länder mit gesellschaftlichen Krisen umgehen und welche Rolle die Soziale Arbeit dabei spielt“, fasst Prof. Rademaker das Seminarziel zusammen. Rademaker, die auf deutscher Seite für die Lehrkollaboration verantwortlich ist, lehrt an der HSBI im Fachbereich Sozialwesen.
Globale Probleme werden in Kleingruppen diskutiert
Und wie läuft so ein digitaler Austausch ab? Die Sitzungen startet Rademaker gerne mit Smalltalk, um trotz der räumlichen Distanz Nähe zwischen den Studierenden herzustellen. Dann folgt klassischer Input der beteiligten Professorinnen aus Schweden, Bulgarien und Deutschland. Im Anschluss geht es für die Studierenden in die Gruppenarbeit. Die Gruppen sind international zusammengesetzt und bestehen bereits seit Semesterbeginn. So arbeiten Studentinnen und Studenten aus Deutschland, Schweden und Bulgarien immer gemeinsam an einer Frage aus dem Seminar. Zusammen erstellen sie über das gesamte Semester hinweg einen Blogeintrag, der als Leistungsnachweis zählt. Der Blogeintrag kann alle im Seminar behandelten Themen abdecken und soll die interkulturelle Kompetenz der Studierenden fördern.
Die Gruppe um Saskia Niebuhr hat für den internationalen Blogeintrag ein hochpolitisches Thema gewählt: „Wir untersuchen, ob geflüchtete Menschen aus der Ukraine und aus afrikanischen Herkunftsländern unterschiedlich behandelt werden“. Dabei vergleichen Niebuhr und ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen beispielsweise, wie lange geflüchtete Menschen auf ihre Arbeitserlaubnis warten und ob sie sich ihren Wohnort im neuen Land aussuchen dürfen. „Das Vorgehen der verschiedenen Länder miteinander zu vergleichen, ist super spannend“, sagt Niebuhr über die Gruppenarbeit. „Wir haben festgestellt, dass Schweden und Bulgarien jeweils eine ganz andere Flüchtlingspolitik verfolgen als Deutschland.“ In ihrem Blogpost schreibt Niebuhrs Gruppe außerdem über die Bevorzugung von Flüchtlingen aus bestimmten Herkunftsländern: „Wir sehen eine Einteilung in Geflüchtete erster und zweiter Klasse.“
Kultureller Perspektivwechsel als Bereicherung in der global vernetzten Welt
Doch warum ist es sinnvoll, das Thema der Gesundheit in der Sozialen Arbeit in einem so ungewöhnlichen Seminarformat zu behandeln? Prof. Rademaker fasst zusammen: „Armut macht krank, und Krankheit macht arm! Menschen, die sozial benachteiligt sind, sind dies in der Regel auch gesundheitlich.“ Die Teilhabe sozial benachteiligter oder erkrankter Menschen muss also interdisziplinär gedacht werden. Und weil Krankheit und soziale Benachteiligung nicht nur in Deutschland ein Problem ist, zielt das Seminar auf den länderübergreifenden Vergleich: „Die Sozialen Arbeit ist immer global ausgerichtet,“ so Rademaker. „Die Studierenden des Seminars erleben einen Aha-Moment, wenn ihnen bewusst wird, dass Sozialarbeiterinnen und -arbeiter aus anderen Ländern vor den gleichen Herausforderungen stehen.“ Ziel des Seminars ist es, professionelle Herangehensweisen der Sozialen Arbeit an gesellschaftliche Krisen in einen globalen Zusammenhang zu setzen. Die Studierenden blicken über den Tellerrand auf die Theorien, Konzepte und Methoden anderer Länder. So reflektieren sie die eigene lokale Praxis und erhalten wertvolle Denkanstöße für den späteren Arbeitsalltag.
Internationale Unterschiede und Sprachbarrieren treten beim fachlichen Austausch in den Hintergrund
So eine international konzipierte Veranstaltung bringt einigen organisatorischen Aufwand mit sich, angefangen damit, einen gemeinsamen Termin für das Seminar zu finden. Unterschiedliche Vorlesungs- und Prüfungszeiten der beteiligten Hochschulen, aber auch ländereigene Feiertage mussten beachtet werden. „Obwohl wir in diesem Seminar nur in Europa kooperieren, ist das bereits sehr herausfordernd“, sagt Prof. Rademaker.
Aber auch innerhalb der gemeinsamen Vorlesungszeiten taten sich Schwierigkeiten auf: „In Schweden ist es absolut ungewöhnlich, am Freitagnachmittag oder Samstag Seminare anzubieten. Dort gilt das Wochenende als privater Raum, der getrennt vom Studium bleibt“, beschreibt Rademaker einen der kulturellen Unterschiede.
Eine Umgewöhnung für die Studierenden der Sozialen Arbeit war, dass der Kurs auf Englisch geführt wurde. „Ich war schon bei Professor Rademakers digitalem Austausch mit der kanadischen Universität dabei, daher war die englische Sprache kein Problem für mich“, berichtet Niebuhr. „Aber auch beim Austausch mit Schweden war klar, dass keiner in der Gruppe über sprachliche Fehler lacht.“ Ihre Kommilitonin Lea Brosowski ergänzt: „Ein ganzes Semester auf Englisch – das war schon eine Herausforderung, aber eine willkommene.“
Natürlich gab es im Verlauf der Semester auch technische Probleme, die aber gemeistert wurden. „Auch wenn es anfangs noch holperte, war von Beginn an klar, dass diese virtuelle Lehrkooperation keine ‚Eintagsfliege‘ bleibt“, sagt Prof. Rademaker über die schwedisch-deutsche Zusammenarbeit. Das große Interesse der Studierenden an der Veranstaltungsform gibt ihr Recht: Im Sommersemester 2023 findet das Seminar derzeit das vierte Semester in Folge statt.
Prof. Rademaker sieht neben der internationalen Vernetzung noch andere Vorteile des digitalen Austausches: „Der Onlinekurs ermöglicht auch solchen Studierenden, die aus familiären oder finanziellen Gründen nicht ins Ausland reisen können, ihre eigene internationale Erfahrung zu machen.“
In Zukunft hybrid statt rein digital – mitsamt einer Exkursion nach Schweden
Und weil das Seminar so gut ankam, plant Prof. Rademaker mit ihren schwedischen und bulgarischen Kolleginnen eine Anpassung an die postpandemische Zeit: Im aktuellen Sommersemester 2023 wird das Seminar zum ersten Mal als sogenanntes Blended Intensive Programm (BIP) angeboten; eine Art hybrider Austausch. Das bedeutet: Eine gemeinsame Vorbereitungszeit findet als Onlinekurs statt, anschließend erfolgt eine internationale Exkursion nach Schweden. Ende Mai 2023 startet eine Reisegruppe mit 20 bulgarischen und deutschen Studierenden gen Norden. Eine Woche lang werden die Studierenden der HSBI, der Universität Sofia und der Universität Göteborg diskutieren, soziale Einrichtungen besichtigen und gemeinsam in internationalen Gruppen zusammenarbeiten – und zwar „face to face“ statt nur vor dem heimischen Bildschirm.