Auf den ersten Blick unscheinbar, aber: Die Bewegungsmelder können über Funk mit dem Hauptprogramm der KI kommunizieren. So kann das System beispielsweise erkennen, ob jemand gestürzt ist. (Foto: Patrick Pollmeier/FH Bielefeld)
Auf den ersten Blick unscheinbar, aber: Die Bewegungsmelder können über Funk mit dem Hauptprogramm der KI kommunizieren. So kann das System beispielsweise erkennen, ob jemand gestürzt ist. (Foto: Patrick Pollmeier/FH Bielefeld)

Monitoring pflegebedürftiger Menschen:

Intelligentes FH-System mit Bewegungssensoren soll Alarm schlagen, wenn etwas nicht stimmt

In einem „it’s OWL Transferpilot“-Projekt entwickelt ein Team der FH Bielefeld ein System, das mithilfe von Bewegungssensoren und einer KI-Komponente Anomalien in Bewegungsmustern erfassen kann. So können beispielsweise Stürze von pflegebedürften älteren Menschen frühzeitig erkannt und automatisch Notrufe abgesetzt werden.

Es ist ein Horrorszenario: Ein älterer, alleinstehender Mensch ist gestürzt und nicht mehr in der Lage, Hilfe herbeizurufen. Womöglich hat der oder die Verunglückte das Bewusstsein verloren oder ist so schwer verletzt, dass das Telefon oder der Notfallknopf nicht mehr erreicht werden können. Bis jemand das Unglück bemerkt, können Stunden, manchmal sogar Tage vergehen.

Die Folgen eines solchen Sturzes sind gravierend: Manche Menschen sterben an ihren Verletzungen oder an Entkräftung, wenn sie nicht rechtzeitig gefunden und versorgt werden können. Langzeitschäden bleiben nicht aus. Prof. Dr. Thorsten Jungeblut und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Justin Baudisch vom Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik der Fachhochschule (FH) Bielefeld wollten dem eine technische Lösung entgegensetzen. Sie haben ein intelligentes System entwickelt, mit dessen Hilfe die Bewegungsabläufe einer Person aufgezeichnet und Anomalien frühzeitig erkannt werden. So kann das System beispielsweise Stürze erfassen und automatisch einen Notruf absetzen: Ein erster Schritt in Richtung mehr Sicherheit in den eigenen vier Wänden. Das Projekt, ein it’s OWL Transferpilot, nennt sich „Maschinelle Intelligenz für die Prädiktion von Interaktion anhand von Bewegungsdaten“ und hat ein Projektvolumen von 232.000 Euro und wird mit 100.000 Euro gefördert. Weitere 121.000 Euro trägt der Transferpartner Steinel.

Pflegepersonal entlasten und Zustand der Pflegebedürftigen überwachen

„In erster Linie soll das System das Leben von älteren, pflegebedürftigen Menschen in den eigenen vier Wänden erleichtern und sichern“, erklärt Projektleiter Dr. Jungeblut, Professor für Industrial Internet of Things an der FH Bielefeld. „Gleichzeitig hat es das Potenzial das Pflegepersonal zu entlasten und die Qualität in der Pflege zu verbessern, indem es selbstständig den Zustand des Bewohners überwacht und bei Missständen dem Pflegepersonal Bescheid gibt oder sogar einen Notruf absetzt. So könnten pflegebedürftige Menschen künftig länger in ihrem eigenen Zuhause wohnen.“

Das Team der FH besteht aus insgesamt sechs Personen: Projektleiter Jungeblut, wissenschaftlicher Mitarbeiter Baudisch, drei studentische Hilfskräfte aus den Bereichen Data-Science, Kognitive Informatik und Maschinenbau sowie ein Praktikant aus dem Bereich Elektrotechnik. Diese ganz unterschiedlichen Bereiche werden benötigt, da im Projekt nicht nur eine Software entwickelt wird, sondern auch die Sensorik realisiert werden muss. Aber wie funktioniert das System?

Maschinelle Intelligenz: Computer lernt, Entscheidungsstrukturen des Menschen zu imitieren

Das von Prof. Dr. Jungeblut und seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Justin Baudisch entwickelte Softwareprogramm sammelt Daten verschiedener Sensoren, die überall in der smarten Wohnung Kogni-Home – eine Musterwohnung, die 2014 aus einem Verbundprojekt entstand – angebracht sind. Dabei handelt es sich um handelsübliche Sensorik wie zum Beispiel Bewegungsmelder, die über Funk mit dem Hauptprogramm der KI kommunizieren. Das Projekt setzt dabei auf einfache, nachrüstbare Sensorik. „Ein großer Vorteil, wenn es um die spätere Umsetzung geht“, erläutert Baudisch. „So kann jede beliebige Wohnung mit der benötigten Hard- und Software ausgestattet werden.“

Aus den gesammelten Daten extrahiert das System zunächst das sogenannte Normalverhalten des Bewohners, also bestimmte Bewegungsabläufe und konkrete Aktivitäten des Alltags. Das dauert seine Zeit und erfordert maschinelles Lernen. Denn: Um eine Gruppe von Daten als Aktivität erkennen zu können, muss der Computer erst lernen, diese Zuordnung zu treffen. Dafür wird das System durch den Menschen trainiert, bis es die Entscheidung selbstständig treffen kann.

Notruf absetzen durch Anomalie-Erkennung

Sobald das System dann Aktivitäten erkennen kann und das Normalverhalten eines Bewohners oder einer Bewohnerin erlernt hat, ist es möglich, neue Sensordaten mit den bereits gelernten abzugleichen und so zu ermitteln, ob etwas Ungewöhnliches aufgetreten ist. Baudisch: „Durch die Anomalie-Erkennung soll das System beispielsweise automatisch feststellen, ob ein Bewohner oder eine Bewohnerin gestürzt ist. Wenn die Bewegungsmelder erkannt haben, dass die Person ins Badezimmer gegangen ist und das Bad bereits seit zwei Stunden nicht wieder verlassen hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass etwas nicht stimmt. Dann kann das System das Pflegepersonal informieren oder gar einen automatischen Notruf absetzen.“

Das System könnte auch in privaten Haushalten das Leben erleichtern

Diese Technik funktioniert jedoch nicht nur im Pflege-Kontext: Neben den reinen Bewegungsabläufen einer Person kann das System auch die daran gekoppelte Nutzung von Licht bzw. Elektrogeräten erlernen. So können anhand der gesammelten Daten auch Vorhersagen getroffen werden. Ein Beispiel: Wenn nach der Aktivität von Bewegungsmelder 1 vom Bewohner oder der Bewohnerin regelmäßig das Licht angeschaltet wird, lernt das System, diese beiden Aktionen zu koppeln und kann im nächsten Schritt das Anschalten des Lichts frühzeitig automatisch übernehmen.

Dasselbe funktioniert auch mit elektronischen Geräten: Diese können ebenfalls automatisch angesteuert werden, sodass beispielsweise der morgendliche Kaffee passend dann aufgebrüht wird, wenn der oder die Bewohnerin das Bett verlässt und der Bewegungsmelder im Schlafzimmer die erste Aktivität am Morgen aufzeichnet. Langfristig kann diese Technik somit auch in privaten Haushalten eingesetzt werden und unterscheidet sich damit von bisher entwickelten Systemen zur Anomalie-Erkennung, die meist nur auf spezielle Bereiche wie beispielsweise die stationäre Pflege ausgelegt sind.

Ganzheitlicher Ansatz: Aktivität wird im Kontext der Umgebung bewertet

Das Besondere: Das System arbeitet nicht nur mit einzelnen Events, sondern bezieht auch immer die Umgebung dieses Events mit ein. „Wir nennen diese Umgebung ‚Bedingungen‘, zu dem ein Event eintritt“, erklärt Jungeblut. „So kann das System zum Beispiel die Bedingung ‚Außentemperatur‘ behandeln und erkennen, dass eine Anomalie vorliegt, wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner im Hochsommer die Heizung anstellt. Im Winter hingegen erkennt das System diese Aktivität als Normalverhalten.“

Ein wichtiger Aspekt im Projekt: hohe Transparenz

Die zweite Besonderheit des Systems ist die hohe Transparenz. So soll das System nicht nur Bescheid geben, wenn eine Anomalie aufgetreten ist, sondern auch eine Erklärung dafür liefern, warum es denkt, eine Anomalie erkannt zu haben. Solch eine Erklärung kann dann beispielsweise lauten: „Es ist eine Anomalie aufgetreten, weil das Haus verlassen wurde, aber der Herd noch eingeschaltet ist.“ In diesem Fall könnte der Herd vom System ausgeschaltet oder das Pflegepersonal informiert werden. Zusätzlich arbeitet ein Student der Universität Bielefeld gerade an der Visualisierung des Systems mittels einer App, die dem oder der Nutzerin die technische Funktionsweise transparent machen soll.

Bisher ist ein Prototyp des Systems im Kogni-Home in Bielefeld sowie in den Privatwohnungen von Jungeblut und Baudisch verbaut, um Daten zu sammeln und zu evaluieren, an welche Grenzen das System stößt. Zukünftig sollen dann weitere Ansätze aus der KI wie Maschine-Learning und neuronale Netze mit dem bisherigen System kombiniert werden, um das System noch „smarter“ zu machen. Künftig soll das System auch in den Einrichtungen der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel zum Einsatz kommen und weiter evaluiert werden.

Verknüpfung von Mensch und Maschine: Ethische Fragen müssen mitgedacht werden

Prof. Dr. Jungeblut ist fasziniert von der Vielseitigkeit des Projekts und stellt heraus, dass gerade in der Verknüpfung von Mensch und Maschine Herausforderungen liegen, die mitgedacht werden müssen: „Das Projekt befindet sich noch am Anfang. Es müssen auch viele ethische Fragen miteinbezogen werden. Wie kann beispielsweise Vertrauen in das System geschaffen werden, wenn tagtäglich persönliche Daten zum eigenen Verhalten aufgezeichnet werden? Wie kann sicher mit personenbezogenen Daten umgegangen werden? Wie gut wird das System von Patientinnen und Patienten und von Pflegekräften angenommen? Wie kann man Ideen und Wünsche dieser Gruppen umsetzen?“

Das Projekt von Jungeblut und Baudisch ist eines von vielen Projekten, die derzeit im Kogni-Home umgesetzt werden. Interessierte können über KogniHome e.V. Führungen durch die smarte Wohnung buchen und sich die einzelnen Projekte zeigen und erklären lassen.

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WIR Redaktion

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