Bielefeld – Wie kann Beschaffung, Verarbeitung und Logistik von Kunststoffen in eine zirkuläre Wertschöpfung überführt werden? Und: Kann die Beantwortung dieser Frage dazu beitragen, den Transfer an der FH Bielefeld einheitlicher und effizienter zu gestalten? Das sind die Kernfragen von InCamS@BI, mit denen sich seit Anfang dieses Jahres annähernd 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigen – ein Vorhaben, das mit 8,8, Millionen Euro von der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ gefördert wird und bei dem die FH unter anderem mit der Universität Bielefeld kooperiert. Zu einem ersten Meinungsaustausch traf sich Projektleiterin Dr. Marion Hövelmeyer mit Vertretern von vier der beteiligten sieben Forschungsgruppen.
Sie ist promovierte Sozial- und Kulturwissenschaftlerin und Change Managerin. Als solche hatte Dr. Marion Hövelmeyer in den vergangenen Jahren immer wieder mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu tun, die ein Problem bis ins kleinste Detail kannten. „Meine Aufgabe war es dann oft, das große Ganze im Auge zu behalten. Und das ist es auch, was mich an InCamS@BI interessiert, denn es ist ein Projekt von enormer gesellschaftlicher Relevanz: Durch seinen Fokus auf die Welt der Kunststoffe kann es Lösungen entwickeln, um in diesem Feld die Verschwendung von Ressourcen zu minimieren und die Verschmutzung der Umwelt zu reduzieren. Durch seinen zusätzlichen Fokus auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Einbindung von Unternehmen kann InCamS@BI eine Blaupause entwickeln für den Transfer zwischen Hochschule, Wirtschaft und Gesellschaft. Am Ende kommen hoffentlich Methoden heraus, die Forschungsgruppen mit anderen Fragestellungen gleich welcher Disziplin gut übernehmen können.“
InCamS@BI ist ein interdisziplinär aufgestelltes Großprojekt
Doch der Reihe nach: Zum 1. Januar dieses Jahres ist an der Fachhochschule (FH) Bielefeld das Projekt InCams@BI gestartet. InCamS@BI steht für „Innovation Campus for Sustainable Solutions“. Ziel des von der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ über fünf Jahre geförderten Vorhabens ist die Entwicklung anwendungsfähiger Projekte und Prozesse für eine Circular Economy von Kunststoffen. Zu diesem Zweck arbeiten annähernd 50 Expertinnen und Experten aus Physik, Chemie, Ingenieur-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften von FH Bielefeld und Universität Bielefeld eng zusammen. Darüber hinaus soll InCamS@BI helfen, in der FH eine zentrale Einrichtung zu schaffen, die Synergien nutzt und die zahlreichen Transferaktivitäten durch die Einführung einheitlicher Prozesse effizienter macht.
Die Change Managerin Hövelmeyer, die auch ausgebildete Nachhaltigkeitsmanagerin ist, hat die Projektleitung von InCamS@BI übernommen. Zu einem ersten Gedankenaustausch traf sie sich in der Experimentierhalle der FH mit vier erfahrenen Kolleginnen bzw. Kollegen aus unterschiedlichen in InCamS@BI involvierten Disziplinen: Prof. Dr. Christiane Nitschke und Prof. Dr. Gerrit Hirschfeld vom Fachbereich Wirtschaft sowie Prof. Dr. Eva Schwenzfeier-Hellkamp vom Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik nutzen die Gelegenheit, sich von Prof. Dr. Christoph Jaroschek, ebenfalls vom Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik, am Beispiel einer Spritzgießmaschine und eines sogenannten Doppelschneckenextruders die heute gängige Art der Kunststoffverarbeitung erklären zu lassen.
Drei Viertel „gutes“, ein Viertel „schlechtes“ Plastik
Jaroschek und sein Forschungsteam haben sich in den vergangenen Jahren auf die Frage konzentriert, wie der Energieverbrauch bei der Kunststoffverarbeitung gesenkt werden kann. Demnach kann ein intelligentes Wärmemanagement 20 bis 30 Prozent der bei der Herstellung von Kunststoffprodukten benötigten Energie einsparen. Jaroschek geht es darum, im Projekt InCamS@BI die Nachhaltigkeit der Kunststoffverarbeitung und der Handhabung von Produkten aus Kunststoffen Schritt für Schritt zu verbessern: „Wir sollten uns darauf konzentrieren, den Energieaufwand bei der Kunststoffverarbeitung weiter zu minimieren und diejenigen Kunststoffe, die im einzelnen Produkt ausgedient haben, in einen Nutzungskreislauf ohne große Downcycling-Effekte zu integrieren.“ Mit Downcycling ist Wiederverwertung von Materialien gemeint, die von schlechterer Qualität sind als das Ausgangsmaterial.
Recycling ohne Downcycling-Effekt, so Jaroschek weiter, funktioniert bedauerlicherweise längst nicht mit allen Kunststoffen. „Man muss zwischen zwei Gruppen unterscheiden“, erläutert der Experte. „Bei rund einem Viertel der weltweit hergestellten Kunststoffprodukte handelt es sich um Leichtverpackungen und Einwegartikel. Deren Verwertung als Rezyklate ist nur in äußerst begrenztem Umfang möglich – unter anderem, weil mehr als zwei Drittel davon leider die Fähigkeit haben, übelriechende Aromastoffe aufzunehmen, die wir zurzeit noch nicht wieder entfernen können.“ Drei Viertel aller weltweit produzierten Kunststoffe allerdings werden in langlebigen, funktionellen Bauteilen eingesetzt. Das sind meist hochwertige Produkte im Dauereisatz, für die wir auch in Zukunft auf Kunststoffe angewiesen sein werden. „Auf diesem Gebiet kann meine Forschungsgruppe einen Beitrag leisten zum Erfolg von InCamS@BI, in dem wir mit der kunststoffverarbeitenden Industrie an der Einsparung von Ressourcen, der Vermeidung von Emissionen und eben an der Rückführung der verwendeten Kunststoffe in die Produktion arbeiten.“
Rezyklate mit gleichbleibender Qualität und hoher Verfügbarkeit gefordert
Aber auch bei diesen hochwertigen Kunststoffprodukten stehen die Produzenten heute vor zahlreichen ungelösten Problemen und scheuen deswegen oft das Risiko, etwas zu verändern und in eine zirkuläre Wertschöpfung einzusteigen. Jaroschek: „Rezyklate haben in der Regel immer noch schlechtere physikalische Eigenschaften als neue Polymere. Eine gleichbleibende Qualität mit hoher Verfügbarkeit – Voraussetzung für den Geschäftserfolg – ist oft nur schwer zu gewährleisten. Hinzukommt, dass Normen und Rechtsvorschriften einem verstärkten Einsatz von Rezyklaten ebenso im Weg stehen wie der immer noch ziemlich hohe Preis, denn die Aufbereitung kostet Geld. Schließlich muss auch die Verbraucherseite erst lernen, dass es kein Qualitätsmangel ist, wenn das Gehäuse der einen Bohrmaschine sich vom Gehäuse der anderen, ansonsten aber identischen Bohrmaschine unterscheidet.“
Das kann Prof. Dr. Eva Schwenzfeier-Hellkamp, ebenfalls vom Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik, bestätigen. Sie ist Leiterin des Instituts für Technische Energie-Systeme ITES und hat Unternehmen in der Region bereits mehrere Jahre im Rahmen des Projekts CirQualityOWL dafür sensibilisiert, Möglichkeiten für den Einstieg in eine zirkuläre Wertschöpfung auszuloten. Ihre Erfahrung sagt ihr: „Für InCams@BI ist es wichtig, dass die Forschungsgruppen Innovationen vom Produkt her denken. Das Design muss so optimiert werden, dass die Produkte, für die Kunststoffe unverzichtbar sind, kreislauffähig werden.“ Zahlreiche Elektronikprodukte, mit denen am ITES geforscht wird, wie beispielsweise Photovoltaikanlagen oder LED-Leuchten, enthalten Kunststoffe. Hier möchte Schwenzfeier-Hellkamp ganz konkret ansetzen.
Verbundstoffe und Additive machen Probleme
Als große Herausforderung sieht sie genau wie ihr Kollege Jaroschek, dass Produkte aus Kunststoff und kunststoffhaltige Produkte oft als Verbundstoffe daherkommen. Produktionsanlagen wie der Doppelschneckenextruder sind dazu da, verschiedene Kunststoffe in einander zu arbeiten oder mit Additiven versehen, um eine notwendige Produkteigenschaft zu erzielen wie beispielsweise UV-Beständigkeit oder bestimmte mechanische Eigenschaften bei tiefen Temperaturen. Wenn ein solches Produkt dann ausgedient hat, mindert diese Verarbeitung zurzeit noch die Chance, den verwendeten Kunststoff weiter zu verwerten. Eine Auftrennung der einzelnen Bestandteile ist oft teuer und manchmal technologisch nicht möglich. Die Folge: Der Einsatz von Rezyklaten bei der Herstellung neuer Kunststoffprodukte ist immer noch gering. Christoph Jaroscheks Idee lautet: „Für eine Kreislaufwirtschaft von langlebigen Produkten wäre ein Festschreiben von Additivrezepten eine gute Maßnahme, keine Weiterentwicklung. Dann wissen alle Hersteller und Wiederverwerter, woran sie sind.“ Eva Schwenzfeier-Hellkamp ergänzt: „Unsere Aufgabe in InCamS@BI wird es sein, die Auswahl der Materialien, den Aufbau der Produkte und die Bereitstellung von Informationen darüber zu optimieren. Dazu ist Expertise zu Materialeigenschaften und Herstellungsprozessen nötig, aber auch rechtliches und wirtschaftswissenschaftliches Know-how.“
Regulatorischer Rahmen wird mitbetrachtet – Initiativen in Brüssel gefordert
Das ist das Stichwort von Prof. Dr. Christiane Nitschke. Sie ist Juristin am Fachbereich Wirtschaft und interessiert sich dafür, welche Anforderungen vom Markt an den Einsatz von Rezyklaten gestellt werden und welche regulatorischen Vorgaben in den Blick genommen werden müssen, damit sich der Einsatz von wiedergewonnen Rohstoffen bei der Kunststoffproduktion erhöht. Nitschke: „Es ist zum Beispiel von entscheidender Bedeutung dafür, wie kostenaufwendig die Weiterverwertung ist, ob ein Stoff vorher als Abfall deklariert war oder nicht.“ Nitschke ist überzeugt, dass eine Circular Economy nur ins Werk gesetzt werden kann, wenn die regulatorischen Vorgaben, insbesondere auch auf EU-Ebene, entsprechend ausgerichtet sind. „Hier brauchen wir den Wissenstransfer in Richtung Politik und insbesondere zu Vertreterinnen und -vertretern der großen Industrieverbände in Brüssel. Andernfalls können die Erfolge, die auf dem Gebiet der Materialforschung erreicht werden, im Markt womöglich keinen Widerhall finden.“
Was im Markt Erfolg hat und was nicht – das ist auch davon abhängig, was Konsumenten und Kunden im Business-to-Business-Bereich tatsächlich akzeptieren. Auf diesem Gebiet bringt Prof. Dr. Gerrit Hirschfeld seine Expertise ein: „Wenn man eine zirkuläre Ökonomie entwickeln will, ist es unverzichtbar, den Attitude-Behaviour-Gap zu überwinden“, so Hirschfeld. Mit diesem „Gap“ ist in der Sozialpsychologie der Befund gemeint, dass Menschen zwar angeben, ihnen sei Umweltschutz wichtig, sich diese Einstellung aber nicht nachhaltig in ihrem Verhalten niederschlägt. „Wir haben in der jüngsten Vergangenheit viele sogenannte Discrete-Choice-Experimente durchgeführt“, berichtet Hirschfeld. Bei solchen Experimenten werden Probanden „gezwungen“, sich zwischen verschiedenen Varianten eines Produktes oder einer Dienstleistung zu entscheiden. „Beispielsweise haben wir uns die Frage gestellt, wie wichtig unseren Absolventinnen und Absolventen Nachhaltigkeitsaspekte bei potentiellen Arbeitgebern sind. Herausgefunden haben wir, dass Absolventen ihre Entscheidung für einen bestimmten Arbeitgeber kaum davon abhängig machen, ob dieser besonders nachhaltig ist oder nicht – sie schauen eher auf die Bezahlung. Das ist zwar auf den ersten Blick klar, aber es widerspricht einer Reihe von Umfragen, die gezeigt haben, dass Nachhaltigkeitsaspekte jungen Erwachsenen heute sehr wichtig sind.“
Ökologische Aspekte spielen im B2C und B2B noch eine untergeordnete Rolle
Hirschfelds etwas ernüchterndes Resümee lautet: „Es sollte allen klar sein, dass bei den meisten Kaufentscheidungen in wirklich realistischen Auswahlsituationen ökologische Aspekte nur eine untergeordnete Rolle spielen. Es ist wichtig, dass Unternehmen sich dessen bewusst sind. Nachhaltige Kunststoffprodukte müssen also mindestens genauso gut sein, wenn nicht besser als solche, die nicht nachhaltig sind.“
Hirschfeld möchte wissen, an welchen Produktverbesserungen Kunststoffforschungsgruppen zurzeit arbeiten, um sie im Rahmen von InCamS@BI im wirtschaftspsychologischen Labor der FH im Hinblick auf ihre Akzeptanz bei den Endkunden prüfen zu können. Mindestens genauso wichtig findet er aber den Fokus auf die Entscheidungsprozesse im Business-to-Business-Bereich (B2B): „Mitarbeitende im Einkauf müssen sich entscheiden, ob und in welchem Umfang sie Rücksicht auf die Recycelbarkeit von Produkten nehmen. Es ist klar, dass hierbei ganz andere Aspekte entscheidungsrelevant sind als im Segment Business-to-Consumer (B2C). Wenn Nachhaltigkeitsziele im Einkauf nicht in den Entscheidungsprozess implementiert sind oder Prämiensysteme für Mitarbeitende, die primär auf Kostensenkung ausgerichtet sind, Nachhaltigkeitsziele konterkarieren, haben nachhaltige Produkte geringe Chancen. Es wäre spannend, hier auf die Kontakte aus dem Ingenieurbereich zurückgreifen zu können, um die Prozesse genauer zu erforschen.“
Deutlich wird bei dem Meinungsaustausch in der Experimentierhalle, dass die Herausforderungen, denen sich InCamS@BI stellt, komplex sind. „Die Interdisziplinarität von InCamS@BI ist nach meiner Überzeugung der Schlüssel zum Erfolg“, sagt Projektleiterin Marion Hövelmeyer. „Die Probleme, die wir bewältigen wollen auf den Gebieten der Verarbeitung und Handhabung von Kunststoffen, dürfen nicht nur punktuell angegangen werden, sondern müssen Einzelprojekt für Einzelprojekt ganzheitlich erfasst und im Dialog mit der Wirtschaft einer tragfähigen Lösung zugeführt werden. Damit haben wir auch die Chance, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die die Transferaktivitäten der FH Bielefeld insgesamt ein Stück weiterbringen.“