Bielefeld – Seit März ist er Professor für Fotografie und generative Bildsysteme an der HSBI. Den Studierenden möchte Adrian Sauer eine reflektierte Haltung inmitten der digitalen Bilderflut vermitteln, damit sie in einer sich rasch wandelnden Berufswelt bestehen können. Sein eigenes Werk wird jetzt preisgekrönt und mit einer großen Ausstellung im Sprengel Museum Hannover ab dem 13. Oktober gewürdigt.
16.777.216. So viele verschiedene Farben können digitale Bilder haben. Nicht weniger. Aber vor allem nicht mehr. Das Pixel-Universum der möglichen Bilder ist unvorstellbar groß – doch es ist endlich. Es sind Erkenntnisse wie diese, die Adrian Sauer mit seinen Arbeiten umkreist. Als Professor für Fotografie und generative Bildsysteme gibt er dieses Wissen seit März dieses Jahres an Studierende des Fachbereichs Gestaltung der Hochschule Bielefeld (HSBI) weiter.
Alle Farben des digitalen Spektrums kommen genau ein Mal vor
Adrian Sauer vertritt angesichts der immer rasanter anschwellenden Bilderflut auf allen medialen Kanälen eine zunehmend relevante künstlerische Position. Das würdigte nun die Jury der Auszeichnung „SPECTRUM Internationaler Preis für Fotografie“ der Stiftung Niedersachsen. Sauer steht als Preisträger damit in einer illustren Reihe etwa mit Thomas Struth, John Baldessari oder Helen Levitt. Aus diesem Anlass widmet ihm das Sprengel Museum Hannover noch bis zum 14. Januar 2024 eine große Werkschau, die Arbeiten aus den vergangenen 25 Jahren umfasst. Die Preisverleihung findet im Rahmen der Ausstellungseröffnung am 13. Oktober 2023 statt.
„Truth Table“ ist der Name der Schau, und so heißt auch die Werkgruppe, die sich um die Zahl 16.777.216 dreht. Die einzelnen Arbeiten sehen vollkommen unterschiedlich aus. Mal ist ein Smiley zu sehen, mal eine von Weitem grau erscheinende Fläche. Nur wer sehr nahe an die Prints herantritt, erkennt das einheitliche Prinzip der Bilder: Jedes der Pixel, aus denen sie bestehen, repräsentiert einen Farbton des RGB-Spektrums der digitalen Fotografie. RGB – das steht für Rot-Grün-Blau. Jeder dieser Farbtöne kommt pro Werk tatsächlich nur ein einziges Mal vor. Generiert hat Sauer die quasi umgekehrten Vexierbilder mit einer selbstprogrammierten Software.
Erstes Motiv: Die eigene Skateboard-Clique am Palast der Republik
Diese Mischung aus spielerischem Experimentieren und intellektueller Klarheit ist typisch für Adrian Sauer. „Ich nutze die Fotografie, um über sie nachzudenken“, bringt er seine Methode auf den Punkt. „Über ihre technischen Gegebenheiten untersuche ich ihre Sprache.“ Daher ist es für Sauer wichtig zu verstehen und zu vermitteln, wie Digitalisierungsprozesse funktionieren. Und manchmal auch daran zu erinnern, wie es damals war – als noch analog fotografiert wurde.
Adrian Sauer, Jahrgang 1976, wächst in Ost-Berlin auf. Beide Eltern sind Chemiker, gleichzeitig ist die Familie kunstaffin – ein guter Nährboden, um sein Talent zum Vorschein zu bringen. „Als Jugendlicher war ich fasziniert davon, dass man mithilfe der Fotografie Bilder machen konnte, ohne zeichnen zu können“, sagt er. „Doch Blende und Belichtungszeit in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen – das erschien mir aus technischer Sicht erst einmal einfach.“ Also schnappt er sich eine Kamera und fotografiert das, was ihn damals, 1993, am meisten bewegt: seine Skateboard-Clique am Palast der Republik. „Ich hatte Glück, dass ich einen Fotozirkel gefunden hatte, dessen Leiter dann sagte: Damit machen wir jetzt mal eine Ausstellung. So bin ich an der Fotografie drangeblieben.“
Eine digitale Zeichnung tritt an die Stelle der Fotografie
In einer Berliner Zeitungsredaktion beobachtet Adrian Sauer zum ersten Mal, wie Bilder digital bearbeitet werden. „In der Grafikabteilung entstanden mit Photoshop Collagen, Motive wurden freigestellt, es wurde ‚weggestempelt‘, was in den Fotos störte“, erinnert er sich. „Dabei wurde mir klar, dass hier ein Paradigmenwechsel stattfindet: Es liegt in der Natur dieser neuen Bilder, dass sie manipulierbar sind. Als ich dann in Leipzig Fotografie studierte, nutzte ich die Technik vollkommen anders. Ich retuschierte nicht den Bildgegenstand, sondern das Korn, den Farbstich und die Unschärfe.“ Eine sehr mühsame Arbeit – mit verblüffendem Ergebnis. „Von weitem wirken diese Bilder noch wie Fotos, doch wenn man näher herantritt, erkennt man: Hier stimmt etwas nicht.“ Das Fotografische ist verschwunden – und eine digitale Zeichnung an seine Stelle getreten.
„Heute müssen wir mit der Erkenntnis leben, dass wir überhaupt keinem Bild mehr trauen können“, sagt Adrian Sauer. „Was KI inzwischen kann, hat diese Lage noch einmal radikal verschärft. Der Papst im Balenciaga-Mantel, die Festnahme von Donald Trump – das waren Bildmanipulationen in jüngster Zeit, die schnell enttarnt wurden. Das viel größere Problem ist, wie in Sozialen Medien Wirklichkeit hergestellt wird.“ Zumal in einer Zeit, in der längst jeder sein eigener Fotograf geworden ist. „Es geht darum, den Realitätsraum der Sozialen Medien mit der eigenen Lebensrealität übereinzubringen. Dafür bedarf es Resilienz und Unterscheidungsvermögen.“
„Der Standortvorteil des FB Gestaltung besteht in der praktischen Anwendbarkeit“
Als Fotografie-Professor sieht Adrian Sauer sich daher an besonders verantwortungsvoller Stelle: „Unsere Aufgabe ist es jetzt, eine Haltung und einen Standort zu bestimmen“, sagt er. „Und den Studierenden zu vermitteln, wie wichtig es ist, inmitten dieser Bilderflut weiterhin Expertise zu entwickeln und die Übersicht zu behalten.“ Die HSBI sieht er in dieser Hinsicht gut aufgestellt – in der Breite wie in der Tiefe. „Wir haben allein vier Professuren für Fotografie, und die sind eingebunden in den Fachbereich Gestaltung. Wenn es um praktische Anwendungen geht, können wir immer sofort kooperieren. Das ist ein großer Standortvorteil.“
Auf der anderen Seite sieht Adrian Sauer Studierende, die voller Neugier dieses Angebot nutzen: „Im vergangenen Semester habe ich einen Kurs rund um die Dunkelkammer gemacht“, erzählt er. „Und war total überrascht, was dabei herausgekommen ist. Hier sind die aus meiner Sicht spannendsten Projekte des Semesters entstanden. Gerade bei den Studierenden, die mit dem Thema KI angefangen haben und ihre Bilder dann zurückgeführt haben auf das analoge Material. Das Ergebnis waren Feedback-Schleifen, mit denen ich im Leben nicht gerechnet hatte. Ich dachte, wir schauen in dem Kurs in den Rückspiegel – aber die Studierenden waren mir da eine Umdrehung voraus.“
„Der Weg der Fotografie ist nicht einfach, aber er lohnt sich“
Adrian Sauer möchte jungen Menschen Mut auf diesem Karriereweg machen – gerade, weil das Digitale das Berufsbild des Fotografierenden so stark verändert hat. „Der Weg ist nicht einfach“, sagt er. „Aber es lohnt sich. Wenn du dich entscheidest, ein Stückweit gegen den Strom zu schwimmen, kannst du mit deinen Bildern den Strom sogar verändern. Mit dieser Einstellung bist du in Bielefeld genau richtig.“