Bielefeld – Nicht erst seit Corona landen immer mehr Kranke auf der Intensivstation. Hier regiert die High-tech-Medizin und stellt die Pflege von immer älteren Menschen mit ihren oft komplexen Krankheitsbildern vor große Herausforderungen. Um sie zu bewältigen, sind akademisch ausgebildete Pflegende und der Transfer aus der Pflegewissenschaft unverzichtbar. Das ist das Ergebnis einer Bestandsaufnahme zwischen Forschenden der FH Bielefeld und Beschäftigten des HDZ NRW. Es gibt viel zu tun, denn die Akademisierung der Pflege liegt in Deutschland nur bei unter ein Prozent.
Wer künstlich beatmet wird, ist schwer krank. Und zusätzlich oft extrem gefährdet: In der Mundhöhle solcher Patienten nämlich nisten sich sehr schnell Keime ein. Diese Eindringlinge können über die Beatmungsmaschine in die Lungen gelangen. Dort lösen sie nicht selten eine gefährliche Entzündung aus. Mediziner sprechen von einer Ventilator-assoziierten Pneumonie (VAP). Mit fatalen Folgen: Viele Betroffene versterben nicht an ihrer eigentlichen Krankheit, sondern an der Lungenentzündung, die sie sich erst im Zuge der künstlichen Beatmung eingefangen haben. In jedem Fall ist die Behandlung einer VAP schwierig, betreuungsintensiv und teuer. Abhilfe schafft hier eine Mundhygiene, die nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen vonstattengeht. Das haben zahlreiche Studien ergeben. Dennoch benutzen neun von zehn Intensivpflegenden in Deutschland zum Beispiel keine Zahnbürste, wenn sie intubierte Patienten versorgen, so eine aktuelle Erhebung (1). Der Grund: Die Bedeutung der Mundpflege für Beatmungspatienten ist in vielen Intensivstationen noch nicht „angekommen“. Es gibt keine entsprechend festgeschriebenen Prozesse, Zeitmangel und Stress tun ihr Übriges.
Pflege von Beatmungspatienten nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen
„Es geht natürlich nicht nur ums Zähneputzen“, stellt Christian Siegling klar. Er ist Pflegedirektor am Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen (HDZ NRW), das zur Ruhr-Universität Bochum gehört. „Zu einer guten Mundhygiene beatmeter Patienten gehören unter anderem die individuelle Beurteilung, die darauf basierende Planung dessen, was getan werden soll, die spezielle und individualisierte Ausführung und die Evaluation des Erreichten.“ Das sind zeitaufwändige Aufgaben, die erlernt und trainiert werden müssen. Aber der Aufwand lohnt sich. Denn: Eine intakte, feuchte und belagfreie Mundschleimhaut, heile Lippen, gesundes Zahnfleisch und saubere Zähne sind die beste Voraussetzung dafür, dass sich im Mund der hilflosen Patienten keine gefährlichen Erreger einnisten.
„Das Thema Mundhygiene ist nur ein Beispiel dafür, dass Pflege nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen die Gesundungschancen von kranken Menschen deutlich erhöht“, sagt Christian Siegling. „Auf den Intensivstationen des HDZ NRW hat sich zu diesem Thema deshalb eine Arbeitsgruppe gebildet, die systematisch die wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Praxis integriert, um die VAP-Fälle zu reduzieren.“ Siegling könnte noch viele weitere solche Beispiele nennen. „Die rasche Integration von Erkenntnissen aus der Pflegewissenschaft hat mittlerweile Tradition am HDZ NRW“, so der Pflegedirektor.
Forschung und Lehre: FH Bielefeld als wichtige Impulsgeberin
Wichtige Impulse dafür kommen unter anderem vom Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule (FH) Bielefeld. Hier wird nicht nur Forschung betrieben, sondern es sind vor allem mehrere Bachelor-, Master- und Zertifikatsstudiengänge im Angebot. „Bei uns werden Pflegende ausgebildet, die während ihrer Ausbildung sehr dicht dran sind an der Wissenschaft. Aus diesem Grund können sie das dort vermittelte Wissen und die dazugehörige Methodik leichter in die Praxis tragen“, erläutert Prof. Dr. Ismail Özlü, der vor rund einem Jahr an die FH für das Lehrgebiet Pflegewissenschaft berufen wurde. Özlü weist darauf hin, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen Sterblichkeit von Patienten und Akademisierung des Pflegepersonals: „Wenn zehn Prozent des Pflegepersonals einen Bachelorabschluss haben, sinkt die Mortalität um sieben Prozent. Das haben mehrere Studien ergeben.“ (2)
Sein rundes Dienstjubiläum hat Özlü zum Anlass genommen, das HDZ gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin und Promovendin Severin Pietsch zu besuchen. Das Forschungsduo wollte mit Beschäftigten vor Ort über Trends in der Intensivpflege und Aufgaben des akademisierten Pflegestudiums sprechen. „Wir wissen, dass spezialisierte Bereiche wie die intensivpflegerische Versorgung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet konsequent in die Lehre integriert werden müssen, denn der Bedarf in der Praxis so hoch ist wie noch nie“, sagt Severin Pietsch.
85.000 Beatmungspatienten müssen intensivmedizinisch versorgt werden
Beispiel künstliche Beatmung: 2006 wurden in Deutschland „nur“ rund 25.000 Patienten künstlich beatmet, mittlerweile sind es über 85.000. Die Covid-19-Pandemie ist dafür eine der Ursachen, aber es gibt weitere Gründe: „Unabhängig von Corona haben wir es auf unserer Station heute mit mehr älteren Menschen zu tun, die oft komplexe Krankheitsbilder aufweisen“, berichtet Denis Beyer, Leiter der Intensivstation E.01 im HDZ. „Ganz grob betrachtet war unser klassischer Patient noch vor zwanzig Jahren 60 Jahre alt, bekam einen Bypass und konnte schon bald wieder entlassen werden. Heute im Zuge von demografischem Wandel und medizinischem Fortschritt sind die Menschen, die zu uns kommen, meist deutlich über 70 und haben zusätzlich zu ihrem Herzleiden zum Beispiel starkes Übergewicht verbunden mit Diabetes mellitus und Bluthochdruck.“ Auch obstruktive Lungenerkrankungen, Delir nach Operationen und allgemeine Gebrechlichkeit stellen die Intensivpflege zunehmend betagter Menschen vor immer größere Herausforderungen. „Die steigende Fallschwere und zunehmende medikamentöse und technische Möglichkeiten erhöhen den Personal- und den Qualifikationsbedarf der Pflegenden“, resümiert HDZ-Pflegedirektor Siegling.
Deutschland ist Nachzügler in der EU bei der Akademisierung der Pflege
Diese Anforderungen können in Deutschland zu oft nicht erfüllt werden, weiß Prof. Özlü: „Bereits 2012 hat der Wissenschaftsrat empfohlen, dass 10 bis 20 Prozent der Pflegenden akademisch ausgebildet sein sollten, um eine zeitgemäße Pflege zu gewährleisten. Tatsächlich sind es aber nur 3 Prozent, und wenn man hier diejenigen abzieht, die in Lehre, Weiterbildung und Management arbeiten, dann sind wir bei unter 1 Prozent. Dieser Zustand ist komplett inakzeptabel und macht uns zu einem Nachzügler in der EU.“ (3)
Das HDZ NRW hat es trotzdem geschafft, dass auf den Intensivstationen des Hauses Pflegende mit klassischer und solche mit akademischer Ausbildung zusammenarbeiten. Auf der Station E.01 arbeiten 13 Pflegende mit Hochschulabschluss. Hier wird der wissenschaftliche Blickwinkel auf die Versorgung im Pflegealltag immer mitgedacht. Die Klinik ist damit im Bundesvergleich allerdings eher eine Ausnahme. Noch gibt es schlichtweg zu wenig Pflegestudierende, auch im HDZ NRW. Das hat mehrere Ursachen: Am Anfang steht, dass Pflegeberufe für viele Menschen kein gutes Image haben. „Zwar wurden die Pflegenden während der Pandemie als Helden hochgejubelt“, erinnert sich Stationsleiter Beyer. „Tatsächlich jedoch wollen nur wenige Menschen den Job machen. Nur wenige wissen, wie anspruchsvoll und gleichzeitig wie befriedigend die Arbeit sein kann. Man hört immer nur von Pflegenotstand und Überarbeitung. Das ist nicht gerade hilfreich fürs Image.“
Sehr befriedigender Beruf trotz „schwieriger“ Rahmenbedingungen
Ein weiterer Minuspunkt ist die vergleichsweise geringe Bezahlung: „Es gibt eine Untersuchung, die festgestellt hat, dass, ausgehend von den erworbenen Skills, Pflegende mit akademischer Ausbildung dasselbe Einstiegsgehalt wie ein Elektroingenieur erhalten müssten“, berichtet Prof. Özlü. „Das allerdings ist in der Regel weit entfernt von der Realität.“ Überdies beginnt das Problem der schlechten Bezahlung bereits am Anfang des Pflegestudiums: „Bis vor Kurzem erhielten Pflegestudierende immerhin wie die Pflege-Azubis eine tarifliche Vergütung“, erzählt Severin Pietsch. „Diese Option ist inzwischen weggefallen mit negativen Auswirkungen auf die Anmeldezahlen für das Pflegestudium.“ Der Gedanke, dass Pflegestudierende neben dem theoretischen Studium an der Hochschule und den Praxiswochen in den Einrichtungen auch noch jobben können wie andere Studierende, ist falsch, findet auch der HDZ-Pflegedirektor: „Wir treten diesem Fehler im System immerhin so entgegen, dass wir den Studierenden eine Beschäftigung anbieten, die nicht nur die Anforderungen des Studiums erfüllt, sondern auch vergütet ist. Aber eigentlich ist eine grundsätzliche Neuregelung für alle Pflegestudierenden dringend nötig.“
Individuell abgestimmt pflegen in einem medizinischen High-tech-Umfeld
„Das würde sich lohnen, um evidenzbasiertes Wissen in den Arbeitsalltag einzubringen“, findet Sarah Lohmeier. Sie hat 2020 das duale Pflegestudium an der FH Bielefeld absolviert, ist seit Oktober 2022 als Teamleitung tätig und Mitglied einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Verbesserung der Prozesse auf der Intensivstation E.01 beschäftigt. Besonders herausfordernd gestaltet sich nach ihrer Erfahrung die Pflege von kritischen erkrankten Patientinnen und Patienten unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedürfnisse. Lohmeier ist es äußerst wichtig zu vermitteln, dass im Rahmen der High-Tech-Medizin, auch die Pflege wissenschaftliche Ansätze zur Behandlung bietet. Auf ihrer Station werden unter anderem Menschen gepflegt, die auf eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) angewiesen sind und nur noch mittels einer Lungenmaschine Sauerstoff erhalten. Oder solche, deren Herz nach einem kardiogenen Schock mit einer Blutpumpe unterstützt werden muss. Oder Menschen mit schwerer Herzinsuffizienz, die durch eine Intraaortale Ballonpumpe (IABP) notfallmedizinisch versorgt werden. „Die Anforderungen in der Pflege steigen technisch und damit steigen auch die Anforderung an das klassische Handling“, weiß Sarah Lohmeier. „Spezialisierung sowie klare und sich ergänzende Arbeitsteilung sind gefragt.“ Das bestätigt Lisa Peper, die im August 2022 ihr Bachelorpflegestudium an der FH Bielefeld erfolgreich abgeschlossen hat: „Durch das Studium habe ich erfahren, das gelerntes Handeln und Informationen kritisch zu hinterfragen sind, und im Zweifelsfall neue Lösungsansätze entwickelt werden müssen. Ich habe es schon erlebt, dass das Wissen der erfahrenen Kolleginnen und Kollegen vor Ort durch evidenzbasierte Inhalte ergänzt wird und die Qualität der Pflege so einen Schub bekommt.“
Allerdings könnte der Transfer noch reibungsloser ablaufen: „Viele Krankenhäuser sind nicht darauf eingestellt, das Wissen der akademisch ausgebildeten Pflegenden in die Praxis zu integrieren und ihnen mehr Verantwortung und auch Aufstiegschancen zu geben“, berichtet Severin Pietsch. „Das birgt ein gewisses Frustrationsrisiko für die Absolventen.“ Für die FH-Studierende Lisa Peper beispielsweise war es gar nicht so einfach, eine Klinik zu finden, in der sie ihre Bachelorarbeit schreiben konnte.
HDZ-Pflegedirektor Siegling weist darauf hin, dass es nicht nur Nachholbedarf in eine Richtung gibt: „Wir können nur dann mehr evidenzbasiertes Wissen in die Praxis integrieren, wenn sich nicht nur die Kliniken dafür öffnen, sondern wenn sich auch die Hochschulen noch genauer an den Problemen der Praxis orientieren. Akademisierung ist kein Selbstzweck.“ Darüber wollen FH und HDZ NRW im Gespräch bleiben, und so vereinbarten Prof. Özlü und der Pflegedirektor gleich einen neuen Gesprächstermin. Denn: Die Zeit drängt, um selbst Lösungen zu entwickeln und der Politik gleichzeitig aufzuzeigen, wo ihrerseits akuter Veränderungsbedarf besteht. Die geburtenstarken Jahrgänge werden erst noch in Rente gehen. Dann stehen viele Pflegende nicht mehr als Arbeitskräfte in den Kliniken zur Verfügung. Gleichzeitig wird die Zahl derjenigen Menschen noch einmal deutlich steigen, die Pflegeleistungen in Anspruch nehmen müssen.