Emely Westfeld studiert im zweiten Bachelorsemester den ausbildungsintegrierten Studiengang Pflege an der FH Bielefeld. Ein Besuch während ihrer Praxisphase in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderungen zeigt, dass sich Theorie an der FH und Praxis beim Kooperationspartner gut ergänzen. Und dass die extreme finanzielle Schlechterstellung der Studierenden gegenüber der früheren Regelung des dualen Studiums den Fachkräftemangel im Pflegebereich noch verstärken wird.
4:30 Uhr, der Wecker klingelt, draußen ist es noch stockfinster. Während Emely Westfeld aus dem Bett steigt, um sich für die Arbeit fertig zu machen, schlafen die meisten anderen Studierenden noch tief und fest. Für die Studentin ist diese Uhrzeit aber ganz normal: Ihr Arbeitstag beginnt zurzeit um 6:00 Uhr in der Wohngruppe Eben Ezer des Wohngruppen-Verbunds Henriette-Ludolph. Die 19-Jährige studiert den ausbildungsintegrierten Bachelor Pflege an der Fachhochschule (FH) Bielefeld. Das Besondere am achtsemestrigen Studiengang: Er verbindet den Studienabschluss Bachelor of Science mit dem Berufsabschluss als Pflegefachfrau/-mann. Ein Besuch während ihrer Praxisphase in der Wohngruppe Eben Ezer zeigt, wie gut sich die Theorie an der FH und die Praxisphasen in unterschiedlichen Einrichtungen ergänzen.
Pflege-Studium an der FH hält alle Möglichkeiten offen
Ursprünglich wollte Westfeld die Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin absolvieren, erfuhr dann jedoch durch einen Vortrag der FH Bielefeld vom ausbildungsintegrierten Studium. „Ich wollte mir alle Möglichkeiten offen halten“, erklärt sie. Denn durch die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte an der FH stehen Westfeld zahlreiche Möglichkeiten offen: Sie könnte in der Wissenschaft bleiben oder in einer Pflegeeinrichtung oder einem Krankenhaus ihr theoretisches Wissen nutzen, um neben der Praxis Leitfäden und Konzepte für den Pflegealltag zu erstellen. Wer studiert, hat auch andere Aufstiegschancen!
Ein Problem: Die Studierenden werden auch während der Praxisphasen nicht vergütet
„Man wird an der FH sehr gut theoretisch vorbereitet, in der Praxis wird dieses Wissen dann gefestigt und angewendet“, sagt Westfeld. Einziger Wehrmutstropfen: Die Praxisphasen der Studierenden werden nicht bezahlt. Grund dafür ist das aktuelle Pflegeberufe-Gesetz, das am 1. Januar 2020 in Kraft trat. Zuvor war der Studiengang Pflege ein dualer Studiengang, sodass neben dem Studium zugleich eine Ausbildung zum/zur Gesundheits- und Krankenpfleger/in abgeschlossen und ein Ausbildungsgehalt gezahlt wurde. Durch die Umstellung auf den ausbildungsintegrierten Studiengang wird den Studierenden lediglich der Studierenden-Status zugesprochen. Die Folge: Das Studium wird nicht vergütet. Ein Problem, denn dadurch wird der Studiengang für viele Interessierte unattraktiv und verstärkt den Fachkräftemangel.
Einige Kooperationspartner der FH Bielefeld wollen dem allerdings entgegenwirken: Um den Studierenden eine Finanzierung des Studiums zu ermöglichen, bieten sie eine Vergütung, Stipendien oder Nebenjobs in ihren Einrichtungen. So halten es bisher das Klinikum Bielefeld und das Herz- und Diabeteszentrum NRW. Weitere Kooperationspartner sollen folgen, so hofft Westfeld.
„In der Theorie kann Pflege gelernt werden, in der Praxis ist jeder anders“
Die vierwöchige Praxisphase in der Wohngruppe Eben Ezer für Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen ist Teil ihres zweiten Praxismoduls. Obwohl sie erst vier Wochen hier ist, geht sie wie selbstverständlich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern um: Mittlerweile weiß sie, wer welche Einschränkungen hat, wer welche Vorlieben. Westfeld: „Eines habe ich während meiner Praxisphase bereits gelernt: In der Theorie kann Körperpflege gelernt werden, aber in der Praxis ist jeder anders. Manche der Bewohnerinnen und Bewohner möchten lieber kalt als warm gewaschen werden, andere möchten lieber erst nach dem Frühstück die Zähne putzen und nicht schon davor.“ Kleinigkeiten, die aber den Pflegealltag stark bestimmen – vor allem dann, wenn die Personen nicht oder nur schwerlich artikulieren können, was sie sich wünschen. Dann heißt es: Vorsichtig herantasten! Denn vielleicht mag der oder die Bewohnerin das gereichte Essen gar nicht, kann dies aber nicht äußern.
Skillslab: Theorie an der FH ermöglicht Übungen im geschützten Raum
Auch, wenn die Theorie nicht auf alle Situationen in der Praxis vorbereiten kann, ist sie doch entscheidend, um auf wissenschaftlicher Grundlage Kompetenzen zur professionellen Pflege, Versorgung und Betreuung von Menschen aller Altersstufen zu erwerben. In acht Semestern werden an der FH pflegerische Interventionen gelehrt und in sogenannten Skillslabs geübt. Das sind geschützte Räume, die wie die Zimmer in Krankenhäusern oder Pflegeheimen ausgestattet sind. Hier können die Studierenden komplexe pflegerische Maßnahmen erlernen, diese kritisch reflektieren und werden so bestmöglich auf die Praxis vorbereitet. Um in möglichst viele verschiedene Bereiche der Pflege Einblicke zu erhalten, werden die Studierenden verschiedenen Praxispartnern zugeteilt, beispielsweise aus der stationären Akutversorgung, aus der stationären Langzeitpflege oder der ambulanten Versorgung.
Aufgaben in der Wohngruppe sind vielfältig
Im ersten Semester arbeitete Westfeld in einem Altenheim. Für ihr zweites Praxismodul wurde ihr die Wohngruppe Eben-Ezer zugeteilt. Hier übernimmt sie je nach individueller Einschränkung der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedliche Aufgaben: Von Körperpflege, Unterstützung beim Essen bis hin zu Spaziergängen oder Ausflügen ist alles dabei. Ob sie Hemmungen hat, wenn es um die Körperpflege geht? „Es war nicht so schwierig, wie ich anfangs dachte, und es hilft, dass die meisten deutlich älter sind als ich. Außerdem tritt irgendwann ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Wenn ich das nicht könnte, wäre ich auch falsch in diesem Beruf.“
Ihre pragmatische Antwort spiegelt auch ihren Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern wider: Obwohl Westfeld erst seit einigen Wochen in der Wohngruppe arbeitet, lässt sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen – weder durch das Fotoshooting für diesen Beitrag, noch durch „schwierige“ Bewohnerinnen und Bewohner. „Ich weiß: Wenn manche Situationen so nicht funktionieren, kann ich immer nach Hilfe fragen. Sei es bei Kolleginnen und Kollegen, oder bei meiner Praxisanleiterin.“
Besonders gut gefällt Westfeld, wie unterschiedlich ihre Aufgaben in der Wohngruppe sind, denn der Pflegebedarf ist individuell. Um die Bewohnerinnen und Bewohner weiterhin in den Alltag zu integrieren und ihnen Strukturen zu geben, sind einige von ihnen fest in die Tagesabläufe der Wohngruppe eingebunden. So hilft eine Bewohnerin täglich bei der Vorbereitung des Mittagessens. Westfeld erklärt: „Es ist wichtig, dass die Bewohnerinnen und Bewohner sich gebraucht fühlen. Daher übernehmen sie regelmäßig Aufgaben – jede und jeder so, wie sie oder er es kann.“
Alles richtig gemacht: Erfolgsmomente bestätigen Westfeld in der Wahl des Studiengangs
Westfeld kann sich gut vorstellen, nach ihrem Studium in einer Wohngruppe wie dieser zu arbeiten: „Die Aufgaben hier sind sehr vielseitig, weil der Pflegebedarf bei den Bewohnern ganz individuell ist. Das Ziel ist es, die Bewohner am normalen Leben teilhaben zu lassen, und dabei unterstützen wir sie.“ Kleine Erfolgsmomente gehören natürlich auch dazu und erfreuen sie nicht nur, sondern bestätigen ihr auch die Wahl des Studiengangs: „Letztens habe ich eine Bewohnerin richtig gut umgesetzt, die nicht selbstständig stehen kann. Zu merken, dass man den Dreh raushat, freut einen in solchen Momenten sehr. Ich bin schon gespannt, was die nächste Praxisphase für mich bereithält.“