HSBI-Wirtschaftsjurist:innen unterstützen Wissenschaft und Wirtschaft mit Expertise
Bielefeld – Am Donnerstag, 18. Juli, ist die europäische Ökodesign-Verordnung in Kraft getreten. Sie ist eine der zahlreichen Gesetzgebungen, die die Wirtschaft in Punkto Nachhaltigkeit regulieren. An der HSBI setzen sich Expert:innen aus dem Wirtschaftsrecht im Projekt InCamS@BI mit den Verordnungen, Richtlinien und Gesetzen auseinander. Sie wissen um die Chancen und Herausforderungen für Unternehmen bei der Umsetzung.
Kreislaufwirtschaftsgesetz, Verpackungsgesetz, Lieferkettenrichtlinie, Green-Claims-Directive, Corporate Sustainability Reporting Directive, Taxonomie-Verordnung und jetzt die EU-Ökodesign-Verordnung – sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene ändern sich Gesetze in Puncto Nachhaltigkeit in einem atemberaubenden Tempo. An der Hochschule Bielefeld (HSBI) im Projekt InCamS@BI (Innovation Campus for Sustainable Solutions) beschäftigen sich drei Personen sehr intensiv mit den aktuellen und kommenden Regulierungen: Kristin Maoro und Micha Steiner arbeiten als Referent:innen für Wirtschaftsrecht im Projekt, Prof. Dr. Christiane Nitschke ist ihre Mentorin. Das Team ist hoch motiviert und möchte nebenbei dem Transfer der HSBI den Rücken stützen.
EU-Ökodesign-Verordnung: Nachhaltige Produktgestaltung
Die neue EU-Ökodesign-Verordnung stellt den gesetzlichen Rahmen für eine nachhaltigere Produktgestaltung. Das Ziel: eine Kreislaufwirtschaft, in der Produkte dementsprechend langlebiger, ressourcensparender sowie besser reparier- und recycelbarer sind. Referent Micha Steiner hat sich monatelang im Rahmen seiner jetzt veröffentlichten Masterarbeit mit der Verordnung befasst und kennt die größten Herausforderungen für Unternehmen: „Es ist vor allem die Ungewissheit, was konkret die Anforderungen an die Produkte sein werden. Aktuell bietet die Verordnung nur den Rahmen, während die tatsächlichen Maßnahmen anschließend pro Produktgruppe durch die Europäische Kommission erarbeitet und in delegierten Rechtsakten verabschiedet werden.“ Das macht es für Unternehmen schwierig, sich frühzeitig vorzubereiten und Anpassungen im Produktionsdesign vorzunehmen, was häufig mit langen Vorlaufzeiten verknüpft ist.
„Auch auf die Kunststoffbranche, mit der wir im Projekt InCamS@BI zusammenarbeiten, kommen in dem Zusammenhang einige Erschwernisse zu. Vor allem die Verfügbarkeit von hochwertigem Rezyklat ist eine Hürde“, so Steiner. Rezyklate sind Kunststoffe, die durch das Recycling von Kunststoffen – zum Beispiel aus dem „Gelben Sack“ – gewonnen werden. Es ist davon auszugehen, dass für viele Produkte ein Mindestrezyklatanteil festgelegt wird, wodurch die schon jetzt am Markt wenig verfügbaren Rezyklate in deutlich größerer Menge benötigt werden. „Deshalb denke ich, dass die massentaugliche Herstellung von qualitativ hochwertigen Rezyklaten eines der Kernthemen der nächsten Jahre wird“, lautet Steiners Einschätzung.
Aber auch andere Branchen sind betroffen: „Ein Aspekt, der meiner Meinung nach lange überfällig war, ist das Verbot der Vernichtung von unverkaufter Verbraucherware, das zunächst für Textilien gilt, später aber auch auf andere Produktgruppen ausgeweitet werden kann“, so Steiner. Aktuell wird, gerade in der Bekleidungsindustrie, ein erschreckend großer Teil der Ware einfach vernichtet, wenn sie nicht schnell genug verkauft wird.
Der europäische Green Deal ist eine Herausforderung
Steiner bringt es auf den Punkt: „Die EU hat sich in den vergangenen Jahren mit dem European Green Deal große Ziele gesetzt und schafft durch Gesetze wie die Ökodesign-Verordnung einen Rahmen, der eingehalten werden muss. Viele der anvisierten Ziele sind aus heutiger Sicht noch eine große Herausforderung, die nur durch technischen Fortschritt und kluge Ideen zu erreichen sind. Die rechtlichen Vorgaben schaffen eine gewisse Dringlichkeit und können dafür sorgen, dass mehr in die Entwicklung nachhaltiger Lösungen investiert wird.“
Steiner selbst lebt seit vielen Jahren vegan und trifft bewusste Konsumentscheidungen: „Ich nutze zum Beispiel, wenn es möglich ist, das Fahrrad oder den Zug, kaufe in der Bio-Abteilung, aber letztendlich sind all das Kleinigkeiten. Die entscheidenden Schritte werden auf höherer Ebene gemacht: in der Industrie. Der Hebel ist sehr viel größer. Und deshalb ist der Green Deal aus meiner Sicht unabdingbar.“ Prof. Dr. Christiane Nitschke, die seit 20 Jahren Wirtschaftsrecht an der HSBI lehrt und gleichzeitig auf viele aktive Jahre in der Industrie als Syndikusanwältin bauen kann, sieht dies etwas kritischer: „Wir müssen immer die Machbarkeit für die Industrie im Auge haben. Diese wird meiner Einschätzung nach bei der Green Deal-Gesetzgebung zu wenig mitgedacht, insbesondere im Hinblick auf unseren typischen deutschen Mittelstand. Wir haben viele Familienunternehmen die in der EU als große Unternehmen gelten und damit denselben Regeln wie Großkonzernen unterliegen.“
Zum Hintergrund: Zahlreiche Gesetze in der EU leiten sich aus dem sogenannten Green Deal ab, der die Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens zum Ziel hat: Europa soll bis 2050 klimaneutral sein und bereits im Jahr 2030 mindestens 55 Prozent weniger Netto-Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 ausstoßen. Das Vorhaben und die damit zusammenhängenden Regulierungen sind ein großartiger Erfolg für ein nachhaltiges Europa, aber es gibt Bedenken, ob die Umsetzung für Unternehmen praktikabel sind – insbesondere für kleine und mittlere sowie den klassischen Mittelstand. Ein großer Punkt ist dabei die schiere Vielzahl und Vielfältigkeit der Gesetze, die dabei helfen sollen, den Deal umzusetzen.
Hohe und unübersichtliche Regulierungsdichte in der EU
Eine, die sich sehr intensiv mit dieser Vielfältigkeit befasst hat, ist Kristin Maoro. In ihrer 2024 abgeschlossenen Masterarbeit hat sich die 27-Jährige mit der Regulierungsdichte in der EU am Beispiel Nachhaltigkeit unter Beachtung der Einflussmöglichkeiten von Unternehmen auf die Gestaltung von Gesetzgebungen beschäftigt. Was sperrig klingt, hat einen einfachen Hintergrund: Nachhaltigkeitsgesetzgebungen entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern zumeist in aufwändigen Gesetzgebungsprozessen. Aber wie können diese beeinflusst werden? Maoro fasst die größten Hebel zusammen: „Unternehmen können sich an Debatten um die Entstehung neuer Gesetze beteiligen, beispielsweise über Verbände oder im Gespräch mit der Politik. Und das sollten sie auch: Denn nur, wenn sie sich so früh wie möglich mit praktischen Beispielen in den Prozess einbringen, können praxisgerechte Ergebnisse erzielt werden.“ Dafür gibt es unter anderem das Portal der EU-Kommission ‚Ihre Meinung zählt‘ und öffentliche Online-Konsultationen. Eine weitere Möglichkeit ist auch der direkte Kontakt zu Entscheidungsträger:innen auf politischer Ebene. Der kann allerdings oft nur indirekt über Verbände geschehen, die eine Vielzahl von Interessen repräsentieren und sich so in den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozess einbringen.
„Die größten Hürden sind der bürokratische Aufwand, die übermäßige Anzahl an Vorschriften sowie die mangelnde Praxistauglichkeit der Gesetze“, weiß Expertin Maoro. Im Projekt InCamS@BI tauscht sie sich regelmäßig mit Firmen aus. Dabei wird zunehmend deutlich: „Die Unternehmen sind mit der überbordenden Regulierung überfordert. Meiner Ansicht nach sollten sie so verfasst werden, dass sie leichter befolgt werden können“, so Maoro. Eine weitere Barriere, gerade für kleine und mittlere Unternehmen: die finanziellen Mittel. Weltkonzerne haben häufig eigene Büros in Brüssel – kleinere Unternehmen verfügen über geringere Ressourcen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass diese sich in Verbänden organisieren und so ihre Interessen einbringen. Ein weiteres Thema sind die in den letzten Jahren verstärkt praktizierten Trilog-Verfahren im europäischen Gesetzgebungsprozess. Sie haben zwar zu einer deutlich effizienteren und schnelleren Verabschiedung von Gesetzen geführt. Allerdings geschieht dies auf Kosten der Transparenz: Das Verfahren findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wodurch kaum Informationen über den Stand der Beratungen oder erzielte Kompromisse veröffentlicht werden.
Mit juristischer Hilfe den Transfer der Hochschule professionalisieren
Innovative Lösungen für den nachhaltigeren Einsatz von Kunststoffen soll das Transferprojekt InCamS@BI an der HSBI entwickeln. Diese Innovationen können durch verschiedene Anreize gefördert werden – einer der Innovationstreiber ist das Recht. Die Expert:innen wissen um die Bedeutung des Wirtschaftsrechts in der Umsetzung der Regulierungen: Eine Innovation kann nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn sie den rechtlichen Rahmenbedingungen genügt. „Deshalb ist es so wichtig, diese von Beginn an mitzudenken – und nicht erst am Ende, wenn alles schon entwickelt wurde“, erklärt Christiane Nitschke. Dieses Denken vermitteln die Jurist:innen den Studierenden im Masterstudiengang Wirtschaftsrecht und das ist einer der Gründe, weshalb die Profis aus dem Wirtschaftsrecht Teil des interdisziplinären Projekts InCamS@BI sind. Transfer bedeutet für sie, dass Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft gegenseitig von Wissen, Ideen und Technologien profitieren. Für ihre Fachrichtung extrem wichtig: Der Transfer in Politik und Gesetzgebung, um die Regulierungen praxistauglicher zu gestalten. Denn: Rechtliche Vorgaben führen nur dann zu Innovationen, wenn sie Unternehmen noch wirtschaftliche Ressourcen zum Entwickeln lassen.
—Über InCamS@BI
Mit InCamS@BI, dem Innovation Campus for Sustainable Solutions, positioniert sich die HSBI als innovative Transferakteurin im Feld der Kreislaufwirtschaft. In dem fächerübergreifenden Projekt werden Ideen generiert und Lösungen entwickelt, um Kunststoffe und deren Handhabung für eine Kreislaufwirtschaft zu optimieren. Mit innovativen Formaten und einem interdisziplinären Team gestaltet InCamS@BI den Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. In dem Projekt werden forschungsbasierte Transferstrukturen systematisch entwickelt, aufgebaut und erprobt. InCamS@BI wird im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule” von 2023 bis 2027 gefördert.