Corona war ein maximaler Stresstest für Familien – und die Anspannung dauert an. Von der Krise werden sich vor allem die Fürsorgenden erst nach und nach erholen – wenn sich die Situation weiter entschärft. Am Weltelterntag wies Professorin Dr. Irene Gerlach, vom Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik (FFP), auf die dringend nötige Unterstützung von Menschen mit Fürsorgepflichten hin, die auch bei einer abklingenden Krise erforderlich ist.
Als Soziologin und Politikwissenschaftlerin zeigt Prof. Dr. Irene Gerlach auf, welche große Bedeutung die Familie als Kleinsteinheit des Staates bei der Bewältigung von Krisen hat. Fürsorgende tragen eine hohe Verantwortung für die Kleinsten – und bestimmen damit das gesellschaftliche Wohl „im Großen“ mit. Für berufstätige Eltern und Fürsorgende war die Corona-Pandemie eine extreme Mehrfachbelastung, die auch langfristig politische Beachtung erforderlich macht.
Im Interview zeigt Professorin Gerlach, wissenschaftliche Leiterin des FFP und Mitglied des Beirates für Familienfragen (Bundesfamilienministerium) auf, wie die Folgen der Krise für Menschen mit Fürsorgepflichten abgemildert werden können. Sie erklärt, wie Unterstützungsmaßnahmen ausgerichtet werden sollten und wo Entscheider:innen genau hingucken müssen.
Professorin Gerlach, wo sind durch die Krise Brennpunkte entstanden?
Brennpunkte gab es an vielen Stellen und im Hinblick auf viele Situationen. Das bezieht sich nicht nur auf die Doppel- bzw. Dreifachbelastung von Erziehung und Betreuung (gegebenenfalls auch Pflege), Erwerbstätigkeit und Homeschooling, sondern auch auf die Neuorganisation von Freizeit und die Schaffung von Ausgleichszeiten und –gelegenheiten.
Welche Auswirkungen wird die Krise langfristig auf Familien haben?
Das kann mit Sicherheit heute noch nicht gesagt werden. Die Auswirkungen werden aber wohl ambivalent ausfallen. Einerseits hat die Pandemie die Notwendigkeit mit sich gebracht, sich auf das engste soziale Umfeld zu beschränken. Das war in den meisten Fällen die Familie. Dies bot die Möglichkeit – oder auch die Notwendigkeit – mehr Zeit miteinander zu verbringen und zu erfahren, wie wertvoll Familie sein kann, setzte aber auch eine aktive Auseinandersetzung mit Handlungsmöglichkeiten unter Coronabedingungen voraus. Dort, wo dies weniger gelang, ist Familie auch als einengend, benachteiligend oder auch bedrohlich wahrgenommen worden. Dieser Umstand zeigt sich nicht zuletzt in der Zunahme häuslicher Gewalt im Vergleich zum Jahr 2019. Dabei muss aber davon ausgegangen werden, dass die latente Gewaltgefahr auch vorher schon vorhanden war, nur unter Coronabedingungen evident wurde. Das heißt, ein Teil der Familien wird im Rückblick auch an die „Entschleunigung“ denken und sich an die Erfahrung der Selbstwirksamkeit erinnern. Für viele Familien bleibt aber die Erschöpfung oder auch ein Gefühl der Unzulänglichkeit.
Welche familienpolitischen Handlungsfelder haben sich ergeben?
Die Krise hat deutlich gemacht, dass viele Familien – wenn auch mit großen Anstrengungen – die Probleme gut gelöst haben. Allerdings sollten insbesondere alle Maßnahmen der Vereinbarkeit von Care und Erwerbsleben nachhaltig weiterentwickelt werden. Familien brauchen darüber hinaus ein zuverlässiges und leistungsstarkes Betreuungssystem und ebenso kostengünstige und niedrigschwellige Freizeitangebote. Eine nennenswerte Anzahl von Familien ist im Hinblick auf die Realisierung der Chancen ihrer Kinder schon vor Corona auf ein zuverlässiges und förderndes Unterstützungsangebot in der Betreuung und Bildung ihrer Kinder angewiesen gewesen. Das ist in der Pandemie sehr deutlich geworden und diese Kinder brauchen eine massive Unterstützung, um nach der Pandemie den Anschluss nicht vollkommen verpasst zu haben.
Welche Unterstützungsleistungen für Eltern & Co. sind jetzt nötig? Und wie dringend sind sie nötig?
Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim BMFSFJ hat in seinem „Recovery Programme“ eine Vielzahl von Handlungsnotwendigkeiten zusammengestellt. Dazu ist es zunächst notwendig, die Gruppen, die nun der besonderen Unterstützung bedürfen, zu identifizieren. Es wird sehr viel an sozialpädagogischer oder sogar sozialpsychologischer Unterstützung notwendig sein. Insofern ist das kürzlich beschlossene Aktionsprogramm der Bundesregierung für Kinder und Jugendliche zunächst einmal zu begrüßen. Es zielt auf den Abbau von Lernrückständen, die Stärkung frühkindlicher Bildung und das Angebot von Ferienfreizeiten und außerschulische Aktivitäten ab. Nun geht es aber darum, das Geld auch sinnvoll einzusetzen. Dabei stellt sich die Frage, ob dies im Rahmen der gängigen Angebote der Kinder- und Jugendhilfe gelingen kann oder ob nicht auch über andere Wege nachgedacht werden muss. Zudem ist fraglich, ob es entsprechende Personalressourcen gibt. Wichtig: Geld allein hilft nicht. Das galt sicher auch für die in der Coronakrise mehrfach ausgezahlten Kinder- und sonstigen Boni. Diese mussten bei erwerbstätigen Eltern, die besonderen Belastungen ausgesetzt waren, auch noch mit dem Steuerfreibetrag verrechnet werden.
Welche Erkenntnisse hat die Politik schon aus der Krise gezogen, welche sollte sie noch ziehen?
Familien waren von dieser Krise ganz unterschiedlich betroffen. Eine nachhaltige Ermöglichung von Vereinbarkeit der Erwerbs- mit der Sorgearbeit ist vor den Krisenerfahrungen wichtig. Die Politik hat mit einer „Homeofficepflicht“ dort, wo die Tätigkeit es zulässt, reagiert. Das halte ich für den falschen Weg. Das Angebot an Vereinbarkeitsmaßnahmen sollte vielmehr durch Unterstützung von Unternehmen und durch Anreize weiterentwickelt werden. Dass Angebote der Kinder- und Jugendhilfe – zumindest im ersten Lockdown – weggebrochen sind, ist ein Missstand, für den es Lösungen im Krisenfall geben muss. Hier muss aus der Erfahrung gelernt werden. Familienberatung sollte insgesamt einen höheren Stellenwert erhalten.