Bielefeld – Die verheerende Flut im Ahrtal 2021, massive Schneefälle in Süddeutschland im vergangenen Dezember oder die jüngsten Überflutungen nach wochenlangem Dauerregen: Extreme Wetterereignisse häufen sich in Deutschland – der Klimawandel lässt grüßen. Immer öfter entstehen hohe Schäden, für die Versicherungen aufkommen müssen. Wie wahrscheinlich ein sogenanntes 100-Jahres-Ereignis ist, hat HSBI-Studentin Melissa Diekmann in ihrer Bachelorarbeit analysiert. Die Studie ist in Zusammenarbeit mit der Hannover Rück entstanden. Ihre Ergebnisse machen Naturkatastrophen zwar nicht vorhersehbarer, aber berechenbarer.
Gurgelnd und schäumend schießt er unter der Fußgängerbrücke hervor und drängt sich schnell durch sein schmales Bett: Noch immer führt der Johannisbach unterhalb des Obersees mehr Wasser als üblich. Melissa Diekmann steht am Ufer und zeigt auf die gegenüber stehenden Sträucher, in deren Zweigen sich allerlei verfangen hat: „Da kann man gut sehen, wie hoch das Wasser stand.“ Auch in Bielefeld waren die Folgen des Dauerregens rund um den Jahreswechsel spürbar. Solches Extremwetter ist Diekmanns Thema: Die Studentin der Hochschule Bielefeld (HSBI) hat sich in ihrer Bachelorarbeit mit der Häufigkeit von sogenannten 100-Jahres-Ereignissen beschäftigt – als Mathematikerin.
Versicherungsmathematik ¬– wichtig für Wirtschaft und Gesellschaft
„Mathe war schon immer mein Ding“, erzählt die 22-Jährige. So war für sie nach dem Abitur das Studienfach auch keine Frage. Nur in welche Richtung sollte es gehen? Grundlagen oder Anwendung, Universität oder Hochschule für Angewandte Wissenschaften? „Mir war es wichtig, dass das Gelernte direkten Praxisbezug hat“, erklärt Melissa Diekmann. Und so entschied sie sich für die damals noch Fachhochschule genannte HSBI und den Bachelorstudiengang „Angewandte Mathematik“. In sieben Semestern lernen die Studierenden hier, mathematische Methoden auf reale Fragestellungen in verschiedenen Bereichen anzuwenden: Naturwissenschaften, Technik, Wirtschaft, Informatik oder Medizin. Für Melissa Diekmann genau das Richtige: „Das macht Spaß! Man hat das Gefühl, etwas geschafft und ein Problem gelöst zu haben.“
Zum Konzept der Anwendungsorientierung gehört auch ein dreimonatiges Praktikum während des Studiums. Diekmann absolvierte es bei der Hannover Rück, eine der größten Rückversicherungsgesellschaften weltweit. Die Studentin hebt fast schon entschuldigend die Schultern: „Versicherungsmathematik liegt nicht gerade im Trend und klingt erstmal eher trocken.“ Zu Unrecht, wie sie findet. „Versicherungen sind relevant für Wirtschaft und Gesellschaft. Man kann hier etwas Sinnvolles tun.“
Dem kann Prof. Dr. Claudia Cottin nur zustimmen: „Versicherungen wirken stabilisierend, sie springen oft auch bei höchsten Schäden ein. Mathematik hilft, die Risiken realistisch einzuschätzen, sodass ausreichend Rücklagen gebildet werden können und die Versicherungen zahlungsfähig bleiben.“ Die Mathematikerin ist ausgewiesene Versicherungsexpertin und an der HSBI zuständig für das Lehrgebiet Finanz- und Versicherungsmathematik im Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik.
Flutkatastrophe im Ahrtal erfordert neue Berechnungen
Zudem liegt der Bereich, den Melissa Diekmann für ihr Praktikum gewählt hatte, anders als oben zunächst angenommen, durchaus im Trend, oder besser gesagt, das Praktikum greift ein hochaktuelles Thema auf: Diekmann arbeitete bei der Hannover Rück in der Group Risk Management Division mit, die sich mit der Modellierung von Naturgefahren beschäftigt. Solche Naturgefahrenmodelle verknüpfen Wetterereignisse mit dadurch verursachten Schäden, wodurch sich den Schadenhöhen Wahrscheinlichkeiten zuordnen lassen. „Sie sind die Basis für die Berechnung des Risikos“, erklärt Dr. Werner Laumann. Als Senior Actuarial Analyst in Natural Catastrophe Modelling betreute er Melissa Diekmann bei der Hannover Rück und freute sich über den Einsatz seiner Praktikantin: „Im Austausch mit der HSBI empfehlen wir uns gerne als Arbeitgeber und profitieren von solch gut ausgebildeten Studierenden, die nicht nur Routinearbeiten erledigen, sondern sich auch mit weiterführenden Aufgaben beschäftigen.“
Wie etwa den Vorschlägen zur Überprüfung oder Anpassung der Naturgefahrenmodelle von Melissa Diekmann. „Wir entwickeln unsere Methoden und Standards permanent weiter, da sich die Bedingungen und Trends für unsere Risikobewertung auch ständig verändern. Zum Beispiel durch den Klimawandel, der sich auf die Wetterverhältnisse auswirkt“, sagt Laumann. Sind also die Naturgefahrenmodelle je nach Region und Gefahr noch realistisch? Oder wird die Wahrscheinlichkeit eines Extremwetterereignisses möglicherweise zu gering eingeschätzt? Das war vermutlich bei der Flut im Ahrtal 2021 der Fall. Melissa Diekmann beschäftigte die Frage so sehr, dass sie daraus ihre Bachelorarbeit machte. Am Beispiel der Katastrophe im Ahrtal nahm sie sich die Wahrscheinlichkeiten der größten Schadenereignisse vor. Sie stellt allerdings erst einmal klar: „100-Jahres-Ereignis bedeutet nicht, dass es nur alle hundert Jahre eintritt, sondern, dass die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis jedes Jahr ein Prozent beträgt.“
Simulationsmodelle ersetzen mangelnde Datenmengen
Das heißt: Das Auftreten ähnlich verheerender Fluten in zwei aufeinanderfolgenden Jahren ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus möglich. Um die Wahrscheinlichkeit hoher Schäden zu berechnen, werden neben den Wetterdaten viele weitere Faktoren berücksichtigt, die sich auf die Schadenhöhe auswirken, wie Veränderungen in der Struktur der Landmasse, zunehmende Urbanisierung, präventive Schutzmaßnahmen oder angepasste Baustandards. „Für die Berechnung werden eigentlich historische Daten benötigt, die aber leider nicht in ausreichender Menge vorliegen – schon gar nicht für die Veränderung des Klimas“, erklärt Diekmann. Aber die Mathematik hält eine passende Methode zur Lösung des Problems bereit: Per Simulation wird die benötigte Datenmenge auf Basis der vorhandenen Daten generiert.
Diekmann öffnet am Computer das Programmierfenster: Codes, Formeln und Zahlenreihen erscheinen: „Mit Hilfe der simulierten Daten lässt sich besagtes Naturgefahrenmodell aufstellen und eine Verteilung für die historischen Schäden ermitteln, aus der sich die Wahrscheinlichkeit für die künftigen Schäden ergibt.“ Bleibt die Frage: Ist diese Verteilung auch plausibel? Hier lag der „Knackpunkt“ der Naturgefahrenmodelle für das Ahrtal, sie waren offenbar nicht mehr plausibel. Melissa Diekmann verifizierte deshalb die Verteilung ihres Modells durch einen Abgleich mit realen, auch jüngsten historischen Schäden. „Dafür habe ich entsprechende Formeln entwickelt, die die Wahrscheinlichkeit berechnen, sodass das Modell richtig eingestellt ist.“ In einem laufenden Prozess testete sie Formeln und Modell, verbesserte und modifizierte, immer im Austausch mit Dr. Werner Laumann und Prof. Cottin als Betreuerin.
Modifizierung der Naturgefahrenmodelle der Hannover Rück gelungen
Das Ergebnis bestätigt die allgemeine Wahrnehmung: Extremwetterereignisse mit hohen Schäden sind häufiger geworden. Vorhersagen kann Diekmann sie zwar nicht. „Aber mit welcher Wahrscheinlichkeit sie tatsächlich eintreten, lässt sich nun besser einschätzen“, urteilt Cottin. Und Laumann bestätigt: „Die Arbeit war ein hilfreicher Beitrag für die Modifizierung unserer Naturgefahrenmodelle.“ Und damit auch ein Beispiel für die erfolgreiche Verknüpfung von Theorie und Praxis im Studium der HSBI.
Trotz erster Job-Angebote aus der Versicherungswirtschaft – mit der Praxis es hat Melissa Diekmann noch nicht eilig. Seit dem Wintersemester studiert sie den Masterstudiengang „Optimierung und Simulation“ an der HSBI: „Das ist die optimale Erweiterung meines Bachelors! Und die familiäre Atmosphäre im Fachbereich liegt mir sowieso.“