Die medizinische Fakultät OWL, die im Wintersemester 2021/22 an der Universität Bielefeld den Studienbetrieb aufnehmen soll, ist eine große Herausforderung, aber auch eine Riesenchance. Das wurde bei der Podiumsdiskussion deutlich, zu der die Volksbank Bielefeld-Gütersloh in ihre Zentrale am Kesselbrink eingeladen hatte. Thema des Abends war die Bedeutung der medizinischen Fakultät für die Uni, die Stadt und die Region.
„Die Universität hat eine große Strahlkraft auf Bielefeld und darüber hinaus. Diese Strahlkraft wird noch größer, wenn es um die medizinische Fakultät geht“, sagte Michael Deitert, Vorstandsvorsitzender der Volksbank Bielefeld-Gütersloh, zur Begrüßung der fünf Diskussionsteilnehmer und rund 100 interessierten Zuhörer.
Für Uni-Rektor Prof. Gerhard Sagerer ist der Aufbau der medizinischen Fakultät „das größte Geschenk“, das die Landesregierung der Hochschule zu ihrem 50-jährigen Bestehen machen konnte. Der Kooperationsvertrag mit dem Klinikum Bielefeld, dem Evangelischen Klinikum Bethel und dem Klinikum Lippe, die gemeinsam das Universitätsklinikum OWL bilden werden, ist bereits unterzeichnet. Die ersten Professuren sind ausgeschrieben. Die Gründungsdekanin ist bestellt. „Wir haben ein irrsinniges Tempo drauf“, so der Uni-Rektor. Doch bis der Studienbetrieb mit jeweils 48 Studierenden im ersten und fünften Fachsemester zum Wintersemester 2021/22 startet und die medizinische Fakultät im Wintersemester 2025/26 mit 300 Studierenden im Vollbetrieb läuft, wartet noch jede Menge Arbeit auf die Beteiligten. Allein die Baukosten schätzt Prof. Gerhard Sagerer auf „nicht ganz eine halbe Milliarde Euro“. Viele der Gebäude entstehen neu. Deshalb warb der Uni-Rektor bei den Zuhörern um Verständnis für den zu erwartenden Baustellenverkehr im Bielefelder Westen.
Ausbildungsschwerpunkt wird die Allgemeinmedizin sein, die „Königsdisziplin“, wie Prof. Gerhard Sagerer betonte. Im Zentrum der Forschung wird die Medizin für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen stehen. Dieser Fokus könnte sich zum Alleinstellungsmerkmal entwickeln, so der Uni-Rektor. Im Endausbau wird die medizinische Fakultät über insgesamt 96 Professuren verfügen. Das entspricht nach Auskunft von Prof. Gerhard Sagerer etwa einem Viertel aller Professuren an der Uni Bielefeld insgesamt und unterstreiche einmal mehr, welche Relevanz die Ärzteausbildung für die Hochschule haben werde.
Für Bielefelds Oberbürgermeister Pit Clausen reicht die Bedeutung weit über die Universität hinaus: „Die medizinische Fakultät ist für OWL ein Glücksfall“, betonte er: „Sie stärkt den Wissenschaftsstandort Bielefeld, den Wirtschaftsstandort Bielefeld und sorgt für mehr Lebensqualität in der Stadt.“ Unter Rot-Grün sei es nicht möglich gewesen, „das Thema durchzubringen“. Umso mehr freue er sich, dass die schwarz-gelbe Landesregierung das anders sehe. Auf die Frage von Moderator Dirk Sluyter, welche Rolle das Rathaus beim Aufbau der medizinischen Fakultät spiele, antwortete Pit Clausen: „Die Stadt versteht sich als Ermöglicher.“ Als Beispiel dafür nannte der Oberbürgermeister das Innovationszentrum Campus Bielefeld, das die Stadt aus der vorgesehenen Nutzung als Gründungszentrum ent- und der Universität überlassen habe. Die ganze Stadtgesellschaft stehe zur medizinischen Fakultät.
Die Begeisterung ist auch am Evangelischen Klinikum Bethel zu spüren: „Unter den Kolleginnen und Kollegen herrscht richtige Aufbruchstimmung“, fasste der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der von Bodelschwinghschen Stiftungen, Dr. Rainer Norden, seine Eindrücke zusammen. Er selbst schätzte seine Euphorie auf einer Skala von eins bis zehn mit einer neun ein, „aber auf dem Weg zu zehn“. Die Vorteile einer medizinischen Fakultät vor Ort sieht Dr. Rainer Norden vor allem im Hinblick auf die ärztliche Versorgung des ländlichen Raums: „Wir entwickeln Wissenschaft und qualifizieren medizinisches Personal. Das lässt sich in Geld gar nicht messen.“
Wie hoch der Bedarf an Allgemeinmedizinern in der Region ist, verdeutlichte Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, anhand von Zahlen: „Ein Drittel der Hausärzte in Deutschland ist über 60 Jahre alt. Die Hausärzte in Ostwestfalen-Lippe haben mit den höchsten Altersdurchschnitt.“ Hinzu kommt, dass mit 59,9 Hausärzten pro 100.000 Einwohner die Dichte in Westfalen-Lippe statistisch so gering ist wie nirgendwo sonst in Deutschland. Dr. Klaus Reinhardt ist zuversichtlich, dass sich viele der neuen Mediziner nach Abschluss des Studiums in der Region niederlassen. Der sogenannte Klebeeffekt sei wissenschaftlich belegt. Die medizinische Fakultät werde die Versorgung mit niedergelassenen Ärzten in Westfalen-Lippe verbessern, so der Bundesärztekammerpräsident: „Wenn jemand in 20 Jahren Bilanz zieht, wird er feststellen, dass sich die Investition gelohnt hat.“
Auch die Zuhörer hatten mit deutlicher Mehrheit keine Zweifel daran, dass sich künftig mehr Ärzte in der Region niederlassen werden. 78 Prozent der Gäste waren nach der Podiumsdiskussion überzeugt davon, dass die medizinische Fakultät für den gewünschten Klebeeffekt sorgen wird, zehn Prozent mehr als zu Beginn der Veranstaltung.