Eine aktuelle Studie zeigt: Die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt sind über das gesamte Erwerbsleben größer als bisher angenommen. Der häufig herangezogene Gender Pay Gap kann das wahre Ausmaß der Ungleichheit nur unzureichend abbilden.
Auf das gesamte Erwerbsleben gerechnet, verdienen Frauen nur etwas mehr als die Hälfte der Erwerbseinkommen der Männer. Ausgedrückt in absoluten Zahlen erzielen Frauen in Westdeutschland in Preisen von 2015 ein erwartetes durchschnittliches Lebenserwerbseinkommen von rund 830.000 Euro, während Männer mit durchschnittlich rund 1,5 Millionen Euro rechnen können. In Ostdeutschland fallen die erwarteten Lebenserwerbseinkommen insgesamt geringer aus. Frauen kommen hier auf rund 660.000 Euro, Männer auf knapp 1,1 Millionen Euro. Die Lücke in den Lebenserwerbseinkommen, der sogenannte Gender Lifetime Earnings Gap, beträgt damit für die jüngsten Jahrgänge, die heute Mitte 30-Jährigen, 45 Prozent in West- und 40 Prozent in Ostdeutschland. Wie groß die Kluft ist, verdeutlicht auch die Betrachtung nach Qualifikationsniveau: Bis zum Geburtsjahrgang 1974 erzielen hochqualifizierte Frauen im Durchschnitt nur so viel Erwerbseinkommen wie geringqualifizierte Männer. Jüngere Akademikerinnen können immerhin ein ähnliches Lebenserwerbseinkommen wie mittelqualifizierte Männer erwarten und holen damit etwas auf.
Zu diesen Ergebnissen kommt eine von der Bertelsmann Stiftung geförderte Studie, für die ein Forschungsteam um Prof. Dr. Timm Bönke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Freien Universität (FU) Berlin die durchschnittlichen Lebenserwerbseinkommen vor Steuern, Abgaben und Transfers – also staatliche Leistungen wie das Eltern- oder Kindergeld – für das 20. bis 60. Lebensjahr berechnet hat.
Kinderlose Frauen schließen zu Männern auf, Mütter hinken immer noch weit hinterher
Kinder führen zu einer deutlichen Minderung der Lebenserwerbseinkommen von Müttern. Auf das Einkommen der Väter wirken sich Kinder hingegen so gut wie nicht aus. Mütter, die heute Mitte 30 sind, können mit einem Lebenserwerbseinkommen von rund 580.000 Euro (Westdeutschland) bzw. 570.000 Euro (Ostdeutschland) rechnen. Damit verdienen sie voraussichtlich rund 62 bzw. 48 Prozent weniger als Männer. Die Entwicklung im Zeitverlauf verdeutlicht, dass es keine nennenswerten Unterschiede zwischen Müttern älterer und jüngerer Jahrgänge gibt. Für Manuela Barišić, Arbeitsmarktexpertin der Bertelsmann Stiftung, ist deshalb klar: „Die Unterschiede in den Lebenserwerbseinkommen zeigen, dass in Deutschland Chancen und Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt zwischen Männern und Frauen sehr ungleich verteilt sind. Dabei haben insbesondere Mütter das Nachsehen.“ Lediglich die Lebenserwerbseinkommen der kinderlosen Frauen näherten sich denen der Männer an. So verdienen heute Mitte 30-Jährige westdeutsche Frauen ohne Kinder 13 und ostdeutsche Frauen drei Prozent weniger als Männer. Dieser relativ geringe Abstand in Ostdeutschland kann durch das vergleichsweise geringe Einkommen von Männern der jüngeren Jahrgänge erklärt werden.
Teilzeitbeschäftigung und längere Auszeiten von Frauen entscheidend für die Einkommenslücke
Rund die Hälfte der Lebenserwerbseinkommenslücke zwischen Frauen und Männern wird durch die vermehrte Teilzeitbeschäftigung sowie längere Auszeiten vom Arbeitsmarkt von Frauen erklärt. Dabei spielen Kinderbetreuung und die Pflege Angehöriger eine wesentliche Rolle. Die Studie zeigt, dass für Frauen im Haupterwerbsalter zwischen 30 und 50 Jahren Teilzeit die dominante Erwerbsform ist. Männer hingegen arbeiten in dieser Phase mehrheitlich in Vollzeit. „Ein erheblicher Teil des Arbeitskräftepotenzials von Frauen wird aktuell nicht voll ausgeschöpft. Im Zuge des demographischen Wandels und des Fachkräftemangels kann Deutschland sich dies nicht mehr leisten“, so Barišić.
Politik sollte Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt im Lebensverlauf betrachten
Da der viel diskutierte Gender Pay Gap, der in 2019 für Gesamtdeutschland bei 20 Prozent lag, lediglich die Lücke in den Bruttostundenlöhnen erfasst, kann er die Ungleichheit, die sich im Lauf eines gesamten Erwerbslebens zwischen Frauen und Männern aufbaut, nicht abbilden. „Die derzeit geltende Messgröße, der Gender Pay Gap, verschleiert, wie groß die Kluft zwischen Männern und Frauen beim Einkommen tatsächlich ist“, kommentiert Barišić. Darüber hinaus ist die Lücke in den Lebenserwerbseinkommen auch ein Vorbote der Geschlechterlücke in den Rentenansprüchen. Der Gender Lifetime Earnings Gap sei laut Barišić daher auch für die Politik ein relevantes Maß.
Der von der Bertelsmann Stiftung geförderten Studie „Wer gewinnt? Wer verliert? Die Entwicklung und Prognose von Lebenserwerbseinkommen in Deutschland“ liegt ein dynamisches Mikrosimulationsmodell zugrunde, das vollständige Erwerbsbiografien im Längsschnitt nachzeichnet. Als Datenbasis dient das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Unter der Annahme, dass die aktuell zu beobachtenden Trends am Arbeitsmarkt fortgeschrieben werden, reicht die Analyse bis in das Jahr 2045. Auf dieser Datengrundlage lassen sich Lebenserwerbseinkommen vor Steuern, Abgaben und Transfers vom 20. bis 60. Lebensjahr für die Kohorten 1964 bis 1985 für Deutschland untersuchen. Für die Analyse von Subgruppen in Ostdeutschland werden die Kohorten von 1971 bis 1982 betrachtet. Dabei liegt für die älteren Kohorten, die heute bereits am Ende ihres Erwerbslebens stehen, der Großteil der empirisch erhobenen Daten vor. Für jüngere Kohorten steigt der Anteil der prognostizierten Daten sukzessive. Mit dieser Betrachtung komplementieren wir bereits bestehende Studien und Analysen zum Thema „Frauen in der Arbeitswelt“ wie z. B. des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, von McKinsey und vom World Economic Forum.