Bielefeld (fhb). Deutschland. Montagabend. Kurz vor achtzehn Uhr: 13 Studierende des Bachelorstudiengangs „Soziale Arbeit“ der Fachhochschule (FH) Bielefeld starten ihre Computer und betreten einen virtuellen Konferenzraum. Szenenwechsel: Kanada. Montagmorgen. Zehn Uhr: 40 Studierende des Bachelorstudiengangs „Nursing“, zu Deutsch: Pflege, der University of Alberta beginnen ihren Uni-Tag. Der erste Termin in ihrem Stundenplan: Videokonferenz mit Studierenden der FH Bielefeld.
Die insgesamt 53 deutschen und kanadischen Studierenden sind Teil des digitalen Seminars „Interprofessional Practice and Education“ – eine Lehrkollaboration des Fachbereichs Sozialwesen der FH Bielefeld und des College of Health Sciences der University of Alberta.
Interprofessioneller Perspektivenwechsel
In wöchentlich stattfindenden, englischsprachigen Zoom-Meetings lernen die Studierenden der zwei unterschiedlichen Berufszweige und Nationalitäten mithilfe kollaborativer Aufgaben mit-, über- sowie voneinander. Gemeinsam erkunden sie die jeweils andere Berufsgruppe, deren Aufgaben, Rollen und Perspektiven. Doch nicht nur das: In kleineren Teams, bestehend aus deutschen und kanadischen Studierenden, arbeiten sie miteinander, jedoch zeitversetzt, an Fallbeispielen aus der Praxis. Als Methode dient ihnen die „Online-Peer-to-Peer-Beratung“ – eine Methode, bei der sich Fachkräfte im interprofessionellen Team, in diesem Fall Studierende, gegenseitig über Klientinnen und Klienten beraten. Der Prozess wird mithilfe von Online-Tools schriftbasiert durchgeführt.
„Auf diese Weise kommen die Studierenden mit unterschiedlichen professionellen Perspektiven in Kontakt. Sie diskutieren, entwickeln praxisnahe Lösungen und reflektieren gemeinsam ihre eigenen Erfahrungen und beruflichen Sichtweisen“, erklärt Prof. Dr. Anna Lena Rademaker, die auf deutscher Seite für die Lehrveranstaltung verantwortlich ist. Die Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen an der FH Bielefeld veranstaltet das virtuelle Seminar zusammen mit ihren beiden kanadischen Kolleginnen Dr. Sherry Dahlke und Dr. Susan Sommerfeldt von der University of Alberta.
Ihr gemeinsames Lehrziel: Studierende des Sozial- und Gesundheitswesen vermitteln sich gegenseitig wertvolle interprofessionelle Kenntnisse, Kompetenzen und Erfahrungen – trotz der mehr als 7.000 Kilometer Entfernung zwischen ihnen.
Digitalisierung im Gesundheitswesen
Ein wichtiger Aspekt, der dabei unweigerlich Beachtung findet, ist das Thema „Digitalisierung“: „Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, dass es vor allem im Sozial- und Gesundheitswesen an Konzepten und Methoden für die digitale Zusammenarbeit mangelt. Mit dem Seminar wollen wir einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten“, so Rademaker. „Das Online-Lernformat bietet den Studierenden zum einen wertvolle praktische Erfahrungen in der grundsätzlichen digitalen Zusammenarbeit. Zum anderen erhalten die Teilnehmenden mit der Methode der Online-Peer-to-Peer-Beratung ein konkretes Werkzeug für die Digitalisierung im Sozial- und Gesundheitswesen an die Hand – ein wichtiger Baustein für eine digitale Zukunft in diesen Bereichen.“
Stärkung der interkulturellen Kompetenz
Doch nicht nur Interprofessionalität und Digitalisierung zeichnen das Seminar aus, sondern ebenso die Stärkung eines „Must-have“ in der heutigen global vernetzten Welt: interkulturelle Kompetenz. Die Studierenden erhalten die Möglichkeit, kulturelle Perspektiven im Sozial- und Gesundheitswesen, einschließlich die ihrer eigenen Gemeinschaft, zu erkunden und Gemeinsamkeiten, Unterschiede sowie Konflikte zu erkennen. „Bereits in der ersten Unterrichtseinheit haben die Seminarteilnehmenden eigenständig einen kulturellen Vergleich des deutschen und kanadischen Gesundheitssystems durchgeführt“, erzählt Dr. Susan Sommerfeldt, Assistant Professor für „Nursing“ an der University of Alberta und aktuell zudem „digitale“ Lehrbeauftragte am Fachbereich Sozialwesen der FH Bielefeld. „Im Hinblick auf Sprache und Kultur bietet das Seminar eine zusätzliche Lernebene, die keine der beiden Gruppen allein erreichen könnte. Dementsprechend groß ist der Lerneffekt für die Studierenden.“
Wertvolle Erfahrungen für den Berufsalltag
Durch die Verbindung eines interprofessionellen Lehransatzes mit interkulturellen Aspekten werden sie dabei auch optimal auf ihre berufliche Zukunft vorbereitet, wie Rademaker erläutert: „In einer globalisierten und multidisziplinären (Arbeits-)Welt werden die Studierenden vor allem im Gesundheitswesen immer wieder mit unterschiedlichen Akteuren in Kontakt kommen, deren Wissen aber auch deren Anforderungen sie in den eigenen Erfahrungshorizont integrieren müssen. Die Erweiterung des eigenen fachlichen Horizontes in Kombination mit einer kultursensiblen Herangehensweise ist daher genau das, was sie für ihren späteren Berufsalltag benötigen.“
Sherry Dahlke, Seminarleiterin auf kanadischer Seite, freut sich, dass dies bereits im Rahmen der Lehrveranstaltung klappt: „Trotz der Zeitverschiebung sowie der unterschiedlichen fachlichen, kulturellen und sprachlichen Ausgangslage funktioniert die Arbeit in der großen Gruppe, aber auch in den kleineren Teams, ausgesprochen gut. Von Beginn an unterstützen sich die Studierenden gegenseitig, hören sich aufmerksam zu und nehmen sensibel Rücksicht auf etwaige Sprachbarrieren. Insbesondere die Zusammensetzung der Kleingruppen aus deutschen und kanadischen Studierenden bereitet den Teilnehmenden sichtlich Freude.“
Belegt wird dies durch die Zahlen: Dank starker Nachfrage findet das Seminar derzeit das dritte Semester in Folge statt, die Vorbereitungen für das Sommersemester laufen bereits.
Förderung durch den DAAD
Die deutsch-kanadische Lehrkollaboration ist Teil des Projektes „We CAN virtuOWL“ im Rahmen des Alberta OWL Hochschulkonsortiums mit Unterstützung des Campus OWL Verbindungsbüros in New York. Dabei erweitert das Projekt die seit 2018 bestehende Kooperation des OWL-Hochschulnetzwerks (Universität Bielefeld, FH Bielefeld, Universität Paderborn und TH OWL) mit vier kanadischen Hochschulen in Edmonton, Alberta (University of Alberta, MacEwan University, Concordia University of Edmonton und Northern Alberta Institute of Technology), um virtuelle Lehr- und Unterstützungsformate. Das Ziel ist es, Lehre in beiden Regionen digital und innovativ weiterzuentwickeln sowie internationale, interkulturelle Erfahrungen unabhängig von physischer Auslandsmobilität zu ermöglichen.
Vergangenes Jahr wurde das Projekt vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) als eines von rund 50 Projekten für das Programm „International Virtual Academic Collaboration (IVAC)“ ausgewählt. Mit dem Programm unterstützte der DAAD deutsche Hochschulen dabei, internationale virtuelle Lehrkollaborationen zu gestalten und auszubauen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung förderte das IVAC-Programm bis September 2021 mit rund 5,5, Millionen Euro.