Bielefeld – Pflegende Angehörige stehen vor vielen Herausforderungen und leiden unter körperlicher und psychischer Überlastung. Dieses Phänomen hat zahlreiche Ursachen. Demografischer Wandel und Pflegenotstand sind nur zwei davon. Manchmal müssen die Betroffenen auch erst lernen, sich die Überlastung einzugestehen und nach Hilfe zu suchen. Der Bedarf an Präventions- und Rehabilitationsangeboten für pflegende Angehörige hat jedenfalls stark zugenommen. In drei zum Jahresende in NRW abgeschlossenen Modellprojekten haben mehrere Projektpartner Konzepte zur Umsetzung in der Vorsorge und Rehabilitation, bei Begleitangeboten für Pflegebedürftige und im Case-Management erarbeitet. Diese Konzeptentwicklungen wurde von Forschenden der HSBI unterstütz und wissenschaftlich begleitet.
Depression, chronische Erschöpfung oder Muskel-Skelett-Erkrankungen: Nicht selten sind das Folge-Erscheinungen der Tätigkeiten von pflegenden Angehörigen. Konzepte erarbeiten, die unterstützende Angebote schnell und leicht ermöglichen, war das Ziel des drei Jahre dauernden Verbundvorhabens „Prävention und Rehabilitation für pflegende Angehörige“, kurz: PuRpA, das von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW gefördert wurde. Ergebnisse der drei Teilprojekte wurden im Rahmen einer Abschlusstagung in der Hochschule Bielefeld (HSBI) vorgestellt.
Pflege-Life-Balance lernen: Vorsorge und Rehabilitation für pflegende Angehörige
Um die Konzeptentwicklung für die „Stationäre Vorsorge und Rehabilitation für pflegende Angehörige“ ging es im ersten Teilprojekt, das von Martina Böhler von der AW Kur und Erholung GmbH der AWO BV Westliches Westfalen durchgeführt wurde. Das Ziel: „Bestehende Einrichtungen wie Vorsorge- und Reha-Kliniken sollen das auf die Bedürfnisse von pflegenden Angehörigen zugeschnittene Rahmenkonzept ohne Probleme umsetzen können“, erklärt Martina Böhler. Rehabilitationsbedürftige pflegende Angehörige sollen in der stationären Maßnahme unter anderem lernen, ihre Selbstfürsorge zu stärken, ihre Selbstwirksamkeit zu erhöhen und ihre Handlungskompetenz auszubauen. Idealerweise gelinge dann am Ende der Rehabilitationsmaßnahme eine gesunde Pflege-Life-Balance, so Böhler. Pflegenden Angehörigen solle in der Reha so etwas wie „Entschleunigung“ ermöglicht werden. Es sei aber keine leichte Aufgabe, die vollen Therapiekalender in der Reha so zu gestalten, dass sie nicht als nächstes „Hamsterrad“ empfunden werden.
Wichtige weitere Elemente einer wirksamen Reha für pflegende Angehörige sind die Durchführung einer Maßnahme in einer Gruppe pflegender Angehöriger mit psychologische Gruppen- und Einzelgesprächen sowie insgesamt die inhaltliche Ausrichtung therapeutischer Angebote auf den als belastend erlebten häuslichen Pflegealltag. Zudem sollte eine Sozialberatung zu relevanten Themen für pflegende Angehörige, also Informationen über Leistungsansprüche, Entlastungsmöglichkeiten im Pflegealltag oder auch die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf angeboten werden. Am Ende der Reha gebe es dann im Rahmen eines „Entlassmanagements“ Empfehlungen für die Zeit danach. Dabei spielen die Angebote der Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige eine wichtige Rolle und künftig auch Angebote im Rahmen eines „Case Managements für pflegende Angehörige“, um das es umfassender in einem weiteren Teilprojekt ging, das ebenfalls von Martina Böhler geleitet wurde.
Erprobt wurde das Rahmenkonzept zur stationären Vorsorge und Rehabilitation in Kliniken in Bad Driburg und Bad Sassendorf. Die Vorsorgekliniken für pflegende Angehörige in Winterberg beteiligten sich an der wissenschaftlichen Begleitstudie. „Die Einrichtungen haben viel geleistet“, lobt Martina Böhler. Nach etwa einem halben Jahr Vorlauf für die Anpassung des Behandlungskonzeptes, der Abläufe und der Schulung der Mitarbeitenden konnte die Erprobung im Mai 2022 dann starten. Begleitet wurde der Prozess vom PuRpA-Team, die Validierung übernahm die HSBI. Fazit: Das Rahmenkonzept bildet eine gute Basis für die Erstellung klinikindividueller Behandlungskonzepte. Und: „Die im Rahmen der wissenschaftlichen Studie schriftlich befragten und interviewten pflegenden Angehörigen waren zufrieden bis sehr zufrieden mit den durchgeführten Maßnahmen“, stellt Martina Brinker, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt PuRpA an der HSBI fest.
Das „Tandem“ stärken: Modulare Begleitangebote für pflegebedürftige pflegende Angehörige
Viele pflegende Angehörige nehmen das Angebot einer Vorsorge- oder Reha-Maßnahme nicht war, weil sie ihren Angehörigen nicht allein lassen können und wollen. Ein weiteres Teilprojekt unter der Leitung von Verena Ising-Volmer vom Caritasverband für das Erzbistum Paderborn befasste sich deshalb mit der Konzeptentwicklung von „Begleitangeboten für pflegebedürftige Begleitpersonen während einer stationären Vorsorge- oder Reha-Maßnahme eines pflegenden Angehörigen“. Ziel sei die Entwicklung von modularen Begleitangeboten für Pflegebedürftige am Kurort des pflegenden Angehörigen gewesen, erklärt Ising-Volmer. Diese sollen die Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen verbessern, das häusliche Betreuungssetting entlasten und das Wohlbefinden im „Pflegetandem“ der beiden Angehörigen stärken. Entwickelt wurden auch „Tandem-Angebote“ für das Pflegepaar gemeinsam.
Die Vorgabe: Das Angebot sollte über die Regelversorgung finanziert werden. Keine leichte Aufgabe, immerhin sei dafür eine „sektorenübergreifende Zusammenarbeit“ nötig gewesen, also Zuständigkeiten von gesetzlicher Krankenversicherung, Rentenversicherung und Pflegekasse zu berücksichtigen gewesen. Denn: Ein „Pflege-Tandem“ kenne das Sozialrecht nicht, kritisierte Dr. Dr. Thomas Ruppel, Fachanwalt für Medizinrecht, der die Projekte sozialrechtlich begleitete. Falsche Anreize schaffe auch der rechtliche Umstand, dass „jeder Sozialversicherungs-Zweig nur für sich denkt“.
Als Partner waren Reha-Kliniken und Mutter-Kind-Kliniken jeweils in Kooperation mit Pflegeheimen beteiligt, die Kurzzeitpflegen anbieten. Einrichtungen in Löhne, Bad Lippspringe, Paderborn, Winterberg, Hallenberg, Brilon sowie Bad Rothenfelde beteiligten sich an der Entwicklung des Rahmenkonzeptes. In der wissenschaftlichen Begleitstudie stellte Alexandra Hirschmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSBI, fest, dass für mehr als 80 Prozent der pflegenden Angehörigen die zeitgleiche Versorgung des pflegebedürftigen Angehörigen eine notwendige Voraussetzung für eine Teilnahme an der Reha gewesen sei. Wichtig sei auch die Möglichkeit gewesen, jederzeit Kontakt zum Angehörigen aufnehmen zu können und Tipps für die Pflegesituation zu bekommen. Insgesamt würden 90 Prozent der Befragten das Vorsorge- und Reha-Angebot samt begleitender Versorgung weiterempfehlen, so Hirschmann.
15 Case-Managerinnen und -Manager werden ausgebildet, um pflegenden Angehörigen helfen zu können
Im Teilprojekt „Case-Management für pflegende Angehörige“ unter der Leitung von Martina Böhler ging es schließlich um die Entwicklung eines Konzeptes „für ein zugehendes Beratungs- und Unterstützungsangebot“. Das Ziel: Gesundheit und Wohlbefinden pflegender Angehöriger zu stärken. Dabei wurde eine Schulung für die Qualifizierung von Case-Managerinnen und -Manager entwickelt. Die Basisschulung mit den Themen „Care -und Case Management“ sowie „Gesundheitsförderung und Prävention“ wurde durch Module des Kooperationspartners Unfallkasse NRW ergänzt: „Beim Pflegen gesund bleiben“ und Familienmoderation/Konfliktmoderation im Rahmen von Pflegebedürftigkeit“ hieß es dabei. Insgesamt wurden 15 Mitarbeitende aus der Sozial- und Pflegeberatung der kooperierenden Modellstandorte in NRW weiterqualifiziert. Schließlich konnte im Sommer 2022 mit neun Case-Managerinnen und -Managern in die Erprobung des Konzeptes gestartet werden. Kooperationspartner waren dabei das AWO-Stadtteilbüro in Recklinghausen, der Caritasverband Ahaus-Vreden mit den Standorten Stadtlohn und Heek sowie der Kreis Steinfurt, der Rheinisch-Bergische Kreis und die Stadt Bielefeld.
Für den Beratungsaufwand sind im Konzept zunächst etwa fünf Beratungstermine vorgesehen, was aber je nach der Komplexität des Falls und dem Beratungsanlass variieren kann. Gemeinsam mit dem pflegenden Angehörigen werden dabei Ziele für mehr Selbstsorge und Entlastung formuliert und die für das Erreichen der Ziele notwendigen Maßnahmen besprochen und festgelegt. Case-Managerin und -Manager unterstützen dann im Laufe der nachfolgenden Beratungstermine dabei, die gesetzten Ziele auch zu erreichen. Für die Beratung sei eine ruhige, private und geschützte Atmosphäre wichtig, in die bei späteren Terminen auch die Familie einbezogen werden könne, erklärt Martina Böhler.
Eine Umfrage zeigte, dass alle zwölf befragten pflegenden Angehörigen das Angebot weiterempfehlen würden. Für eine Interviewte war es gar „einer der besten Momente der letzten Jahre“, zitiert Nele Buschsieweke, wissenschaftliche Mitarbeiterin der HSBI. Die Beratung habe Auswege aus Überforderung und Verzweiflung aufgezeigt und mancher pflegenden Angehörigen ein „besseres und ruhigeres Schlafen“ ermöglicht.
Bisher sei allerdings ein solches Case-Management im Sozialrecht nicht vorgesehen, erläuterte der Medizinrechtler Ruppel. Er schlägt vor, das Case-Management, das erhebliche Folgekosten verhindern könne, im Heilmittelrecht zu verankern. Bei Bedarf könnte es dann vom Arzt verordnet werden. „Dann bliebe die Bürokratie überschaubar“, so Ruppel.
„Die erprobten Angebote für pflegende Angehörige und Begleitpersonen sind Leuchttürme für NRW, und auch für die Republik, weil viele Menschen davon profitieren können“, ist Prof. Dr. Norbert Seidl überzeugt, der die wissenschaftliche Begleitung der Projekte leitete.