Bielefeld – Prof. Herwig Scherabon startet in sein erstes reguläres Semester am Fachbereich Gestaltung, Studienrichtung Digital Media and Experiment (DMX). Als Künstler arbeitet der Österreicher mit multimedialen Installationen, in die Ausstellungsbesucher*innen mit Körper und Geist eintauchen können. Als Professor für Immersive Environments möchte er die dafür nötigen Tools vermitteln und eine neue, kritische Generation von Kreativen ausbilden.
Wenn es im Leben nach der Wahrscheinlichkeit ginge, hätte Herwig Scherabon beruflich nichts mit Medien gemacht, nichts mit Kunst und nicht so viel mit Menschen, sondern mehr mit Kühen und Pferden. „Meine Eltern sind Tierärzte“, sagt der Medienkünstler und seit kurzem jüngste Professor der Hochschule Bielefeld (HSBI). Aber im Leben regieren auch Zufälle. Scherabon nennt es zeitgemäßer: „mit dem Flow gehen“. Und so zeichnet der 35-Jährige nun mitverantwortlich für die Studienrichtung Digital Media and Experiment, kurz DMX.
Ein Teenager zwischen Kunst, Handwerk und Computer
Herwig Scherabon wächst im Dorf Großraming in den oberösterreichischen Kalkalpen auf. „Diese voralpine Gegend ist landschaftlich sehr schön“, sagt er. Eine „grüne Hölle“, wie er sie nennt – in der es bereits dem 14-Jährigen zu eng wird. „Da bin ich von zuhause ausgezogen und an die Höhere Bundeslehranstalt für künstlerische Gestaltung nach Linz gegangen, gefördert von meiner Mutter, die auch Hobbymalerin ist“, erzählt er. Neben dem normalen gymnasialen Stoff erlernt er dort verschiedenste künstlerische und kunsthandwerkliche Techniken, bis hin zu Tischlerei, Schmuckherstellung und Textilbearbeitung.
Das kommt dem jungen Kunstschüler entgegen. „Ich würde nicht behaupten, dass ich künstlerisch besonders begabt gewesen bin“, sagt Scherabon. „Aber das Interesse war sehr stark.“ Hinzu kommt eine ausgeprägte Neigung zu digitaler Technik. „Mein Onkel hatte mir einen Laptop geschenkt, als ich zehn Jahre alt war“, erinnert er sich. „Gaming war natürlich ein großes Thema, aber viel mehr noch Dinge wie das Installieren von Programmen oder etwa die Reinigung des Computers.“
„Mit der österreichischen Gesellschaft und Kultur habe ich ein Problem“
Künstler wollte Herwig Scherabon nach dem Abschluss ursprünglich nicht werden. „Das war mir finanziell zu unsicher, also habe ich in Wien Architektur studiert“, sagt er. Doch die Arbeit und ihr Umfeld gefallen ihm letztendlich nicht – „kulturell zu kalt, zu stressig, zu unsozial“. Stattdessen schwenkt er um in Richtung Grafikdesign. „Ich wollte gestalterisch arbeiten, ohne mich in irgendwelchen Gentrifizierungsprojekten zu verzetteln“, sagt er. In Glasgow findet er einen Studiengang, den er als sehr frei empfindet. „Die Atmosphäre, die dort herrschte, hat meine jetzige Lehrtätigkeit stark beeinflusst.“ Gleichzeitig ist es der Schritt raus aus Wien. „Das ist eine äußerst konservative Stadt, auch ein bisschen xenophob. Ich mag Österreich, mit seiner Landschaft und Natur – mit der Gesellschaft und der Kultur habe ich allerdings so meine Probleme.“
Als freiberuflicher Grafikdesigner bekommt Herwig Scherabon mehr und mehr Aufträge, die in Richtung 3-D-Gestaltung, Animation und CGI (Computer-generated imagery) gehen. Und nicht nur die Kunden, auch die Kunstwelt ist von seinen Ideen begeistert. „So hat sich nach und nach eine künstlerische Praxis entwickelt, und schließlich habe ich fast nur noch Ausstellungen gemacht und keine Designaufträge mehr bekommen. Und ich dachte: Na ja, vielleicht sollte ich mich jetzt doch Künstler nennen. Geplant war das nicht, ich bin einfach immer schön mit dem Flow gegangen.“
Was ist Wirklichkeit? Und wie nehmen Nicht-Menschen die Welt wahr?
Herwig Scherabons immersive, multimediale Installationen waren bereits in New York, Tokyo, Seoul, Berlin und vielen anderen Orten zu sehen. Er erhielt Lehraufträge am Bauhaus und in Karachi. Sein Werk ist mehrfach preisgekrönt. Stets geht es darin um das schillernde Wesen der Wirklichkeit. Um die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt und ihre non-hierarchische Aufweichung. Um die Einnahme von Perspektiven, die nicht-menschlich, vielleicht überweltlich sind. „Ich bin stark geprägt durch die Object-oriented Ontology“, erklärt Scherabon. „In dieser posthumanistischen Philosophie gibt es den klassischen Gegensatz zwischen dem Ich und dem Anderen so nicht mehr.“
Die „Motive“ in den Arbeiten von Herwig Scherabon sind schwer zu fassen. Es sind mal artifizielle Landschaften, mal morphende Wesen wie aus einer anderen Galaxie, mal kartografische Daten. Dazu erklingen bedrohlich wirkende Soundscapes. Die Rezipierenden können in diese Kunstwerke buchstäblich ein- und abtauchen. Sie ermöglichen nicht nur eine beeindruckende visuelle und akustische, sondern überdies oft eine körperliche Erfahrung, in der Realität und Virtualität verschwimmen. Diese immersiven Erlebnisse haben bei Scherabon so gut wie nichts mit Unterhaltung zu tun, dafür viel mit Transzendenz.
„Virtual Reality“ als Mittel zur Bewusstseinserweiterung
Aus Kunst wird Philosophie wird Psychedelik wird Spiritualität. Herwig Scherabon ist davon überzeugt, dass das Erleben innerhalb immersiver Installationen zu Bewusstseinserweiterung und zu Einsichten führen können, die auch gesellschaftlich relevant sind. „Digitale Medien sind eine sehr gute Methode, um quasi auf Knopfdruck Transzendenz zu erzeugen“, sagt er. „CGI lässt uns ja Dinge sehen, die wir mit bloßem Auge nicht wahrnehmen können, etwa die Wurzelstruktur eines Baumes oder das Wachstum von Pilzen.“ Auch Elemente von Horror spielen für ihn dabei eine Rolle. „Ich glaube, dass wir die Dimensionen des ökologischen Kollapses erst dann wirklich verstehen, wenn wir den Schrecken darin spüren.“
Scherabon erzählt von einem alten Mann, der seine Installation „Afterlife“ auf dem Spring-Festival 2018 in Graz besucht hat. „Das war so ein dunkler Club-Raum, gefüllt mit Nebel und Sound, und im Zentrum diese Virtual-Reality-Installation. Was man sah, war eine schwarz-weiße Welt aus Polygon-Landschaften. Es ging um buddhistische Meditation, dissoziative körperliche Erfahrungen, letztlich um den Tod. Dieser Mann war bereits sehr gebrechlich und hat sich lange angestellt und gewartet, bis er an die Reihe kam. Er war dann tatsächlich etwa eine halbe Stunde unter der VR-Brille. Danach war er schwer betroffen und fand kaum Worte für das, was er gerade erlebt hatte. Aber er hat mir gestanden, dass das eine außerordentlich wichtige Erfahrung für ihn gewesen ist. Wunderschön auch, dass eine neue Technologie über alle Generationen hinweg so eindrucksvoll funktioniert.“
„DMX hat ein einzigartiges Profil in der Bildungslandschaft Europas“
Was die technischen Möglichkeiten angeht, virtuelle Welten zu erschaffen, habe sich in den vergangenen Jahren enorm viel getan. „Ich bin auf dem Gebiet ein absoluter Nerd“, sagt Herwig Scherabon. „Aber es ist schwierig, dabei immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. Inzwischen ist das meine eigentliche Arbeit.“ Das gilt sowohl für den Künstler als auch für den Professor. „Für meine Studierenden ist es essenziell, schnell neue Tools erlernen zu können – genau das will ich vermitteln. Künstliche Intelligenz ist dabei eine große Hilfe. Die Zukunft liegt daher nicht im Handwerklichen, sondern im Intellektuellen. Hier bei DMX bilden wir im Grunde die Art-Direktoren von morgen aus.“
Das X in DMX steht für das Experimentieren mit den digitalen Tools. „Diesen Aspekt halte ich ganz hoch“, betont Scherabon. Neue Methoden auszuprobieren, interdisziplinär zu denken, flexibel zwischen der Vielzahl an Möglichkeiten navigieren zu können, neugierig zu bleiben – das zähle heute am Arbeitsmarkt der Kreativen. „Was das angeht, hat DMX ein einzigartiges Profil in der europäischen Bildungslandschaft. Mir ist kein anderer Studiengang bekannt, der so rigoros Medienkunst mit Mediendesign verbindet. Hier erarbeiten sich die Studierenden ein Portfolio, das in der Branche gut ankommt.“
Mit einer kritischen Position künstlerisch forschen
Nach Bielefeld kam Herwig Scherabon mit dem typischen Flow. „Ich wurde im September 2022 eingeladen, eine Vertretungsprofessur zu übernehmen. In zwei Wochen ginge es los. Und ich bin spontan eingesprungen“, erzählt er. Mit den Studierenden zu arbeiten, die Lehrveranstaltungen zu kuratieren – das hat ihm viel Spaß gemacht. So sehr, dass er sich auf die reguläre Professorenstelle bewarb.
Zu seinen Aufgaben gehört es jetzt auch, den Studiengang weiter aufzubauen und sein Profil nach außen zu kommunizieren. „Ich möchte unter anderem für DMX eine starke kritische Position verankern und Leute ausbilden, die mit neuen Technologien verantwortungsbewusst und reflektiert umgehen. Das ist das, was ich unter Künstlerischer Forschung verstehe.“
„Als Millennial lerne ich viel von der Gen Z“
Das Highlight bleibt für Herwig Scherabon das Unterrichten. Mit den Studierenden fühlt er sich dabei sehr verbunden. „Gleichzeitig lerne ich als Millennial auch ganz viel von dieser Gen Z“, sagt Scherabon. „Diese Wokeness gegenüber sozialen Themen, die Vorsicht gegenüber Identität und die Sensibilität in Genderfragen – das beeindruckt mich immer wieder.“
Nebenher entwickelt Herwig Scherabon in seiner Wahlheimat Berlin neue Projekte. „Wenn ich selbst keine Kunst mache, fühle ich mich leer und traurig“, sagt er augenzwinkernd. „Die Zeit dafür muss ich mir nehmen. Doch inzwischen kann ich die Arbeit gut delegieren. Die Berufskrankheit eines jeden Künstlers ist es ja, ständig mit seinem Ego kämpfen zu müssen. Die Wahrheit aber ist, dass Kollaborationen am Ende immer die besseren Ergebnisse bringen.“