Bielefeld – Sie verfügen über umfangreiche Vorkenntnisse, sind motiviert und lernen bereits Deutsch. An der FH Bielefeld setzen Geflüchtete aus der Ukraine ihre krankenpflegerischen und medizinischen Studien fort. Im Rahmen der Summer School lernten sie am Evangelische Klinikum Bethel das deutsche Gesundheitssystem nun aus der Nähe kennen
Injektionsnadeln, Tupfer, Kanülen und Infusionspumpen liegen sorgfältig drapiert auf einem Tisch. Auf einem weiteren: Atemtrainer, Kopfkissen und Desinfektionsmittel. Auf einem dritten: verpackte Hygieneartikel für die Körperpflege. Rundherum sitzen neun junge Menschen, die erst vor Kurzem nach Deutschland geflüchtet sind. Sie hören aufmerksam zu, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bielefelder Evangelischen Klinikums Bethel (EvKB) ihnen erläutern. Die Utensilien auf den drei Tischen kennen sie überwiegend, denn die meisten von ihnen haben noch bis vor einem halben Jahr Medizin studiert – in der Ukraine.
Seit Anfang Mai nehmen 53 geflüchtete Studierende an dem maßgeschneiderten Studienprogramm „Study On, Ukraine!“ (SOU) der Fachhochschule (FH) Bielefeld teil. Neben einem breiten Deutschkursangebot zählen englischsprachige Lehrveranstaltungen zum SOU-Programm. Einige der Geflüchteten haben sich im Rahmen der Summer School der FH nun intensiv mit dem Berufsbild der Pflegefachkraft beschäftigt.
In der Summer School werden länderspezifische Unterschiede in der Pflege deutlich
Die Studierenden kommen überwiegend aus Nigeria, eine Frau stammt aus Ghana, eine andere aus Sierra Leone. Sie sind zwischen 20 und 35 Jahre alt und haben in Charkiw, Kiew oder Lviv Medizin, Biotechnologie oder Pflegewissenschaft studiert. Ihr Alltag in OWL sieht anders aus: Sie besuchen Pflegeeinrichtungen, schreiben Bewerbungen, tauschen sich mit Berufspraktikern aus.
„Mit der Summer School ‚Pflege in Deutschland‘ richten wir uns speziell an Studierende, die über substanzielles medizinisches Vorwissen verfügen, aber wenig über das deutsche Gesundheitssystem und unser Berufsbild der Pflegefachkraft wissen“, erläutert Sebastian Neuhaus-Ewering, Koordinator der Summer School. „Körpernahe Pflegetätigkeiten wie Waschen und Ankleiden von Patienten zum Beispiel werden in ukrainischen Krankenhäusern häufig von den Angehörigen übernommen. Pflegefachkräfte in der Ukraine üben viele Aufgaben aus, die in Deutschland von Ärzten ausgeführt werden dürfen.“
Praktisch und interaktiv: Geflüchtete Studierenden machen sich mit dem Beruf der Pflegefachkraft vertraut
Entsprechend praxisnah verläuft der Vormittag am Klinikum Bethel. „Wie ist der normale Blutdruckwert bei einem Erwachsenen?“ Jemand antwortet: „120 zu 60 bis 80.“ Richtig. Nächste Frage: „Wie desinfiziert man seine Hände?“ Sie werden trocken mit zwei großen Tropfen Desinfektionsmittel 30 Sekunden lang eingerieben, erklärt einer der Studierenden. Die Pflegefachkräfte des EvKB führen die internationalen Teilnehmenden durch ihren deutschen Klinikalltag. Die Gäste probieren ein Lungentrainingssystem aus, hören sich gegenseitig mit dem Stethoskop ab oder identifizieren geeignete Punktionsstellen in ihren Armbeugen. Es stellt sich heraus: Das medizinische Know-how der Studierenden ist bereits groß, ebenso wie Neugierde und Engagement.
Victor Adeshina setzt sein Medizinstudium fort, lernt Deutsch und jobbt nebenbei
Einer der Studenten ist Victor Adeshina aus Nigeria. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, befand er sich im siebten Semester – nächstes Jahr wollte er sein Medizinstudium abschließen. Er plante nach Großbritannien zu gehen, eine Stelle zu finden, seine Mutter und seine Geschwister wiederzusehen. „Mein Traum ist es nach wie vor, Arzt in einer Arztpraxis zu sein“, sagt der 27-Jährige. „Die Arbeit mit kranken Menschen liegt mir sehr am Herzen.“
Seit einigen Monaten kann Adeshina nun sein Medizin-Studium fortsetzen. Seine Hochschule in Kiew bietet die Lehrveranstaltungen online an. Parallel zu seinem Vollzeitstudium nimmt Victor Adeshina an einem Deutschsprachkurs an der FH Bielefeld teil, mit 25 Unterrichtsstunden pro Woche. Und zusätzlich jobbt er als Pflegeassistent am Klinikum Bielefeld-Mitte.
Mit dem FH-Studium dem beruflichen Traum ein Stück näherkommen
„An dem SOU-Programm und der Summer School teilzunehmen, ist ein echtes Privileg für mich“, so Adeshina. „Die FH-Mitarbeitenden unterstützen uns, unsere Ziele trotz aller Widrigkeiten weiter zu verfolgen. Sie kümmern sich und investieren in mich, daher möchte ich mich besonders anstrengen, um irgendwann anderen Menschen etwas zurückgeben zu können. Auch den Bachelor in ‚Pflege‘ an der FH Bielefeld zu absolvieren, kann ich mir mittlerweile gut vorstellen, weil es mir eine Möglichkeit bietet, im deutschen Gesundheitssystem zu arbeiten und somit meinem Traum näher zu kommen.“
Während des ausbildungsintegrierten Bachelorstudiengangs „Pflege“ am Fachbereich Gesundheit lernen die Studierenden Menschen aller Altersstufen und in allen Versorgungsbereichen selbstständig und prozessorientiert zu pflegen. Dabei wechseln sich Phasen des hochschulischen Lernens mit praktischen Phasen in unterschiedlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens ab. Das Besondere an dem achtsemestrigen Studium: Es verbindet den Studienabschluss Bachelor of Science mit dem Berufsabschluss als Pflegefachfrau/-mann. Neben pflegerischen Tätigkeiten in Gesundheitseinrichtungen stehen Absolventen damit auch berufliche Wege in der Wissenschaft offen.
Besuch im Klinikum Bethel sorgt für zusätzliche Motivation
„Ich habe mir sehr viel neues Wissen aneignen können“, sagt Ogechi Justina Nwakanma über ihren Besuch in Bethel. Dabei seien ihr die Unterschiede zwischen dem Gesundheitssystem in Deutschland und in ihrer Heimat Nigeria bewusst geworden. „In Westafrika fallen die Gehälter für Pflegekräfte deutlich geringer aus, dagegen ist der Aufgabenbereich sehr viel umfangreicher. Dort assistieren wir den Ärzten viel mehr als hier“, sagt sie. „Aber ich bin jetzt zusätzlich motiviert, meine berufliche Karriere als Pflegefachfrau voranzutreiben.“
Nwakanma kam am 20. Februar 2022 nach Kiew, um ihr Bachelorstudium der Pflegewissenschaft aufzunehmen – vier Tage später war Krieg. Sie wusste um die hohe Qualität in der pflegerischen und medizinischen Lehre in der Ukraine. Die niedrigen Kosten des Studiums waren ein weiterer Anreiz. In Nigeria hatte sie bereits erfolgreich ein Studium der Erziehungswissenschaften und Wirtschaft absolviert. „Ich möchte gerne meine Pflegeausbildung an der FH Bielefeld fortsetzen“, sagt die 27-Jährige. „Der Bachelorstudiengang ‚Pflege‘ bietet mir hier viele Möglichkeiten, mich vor allem akademisch voranzubringen, damit ich mich später auch für einen Master bewerben kann. Doch zunächst einmal muss ich fließend die deutsche Sprache erlernen.“
Geflüchtete Studierende verfügen über eine enorme Auffassungsgabe und Analysefähigkeit
Inge Neufeld weiß um die hohen Anforderungen an ausländische Pflegekräfte. Sie hat 13 Jahre lang als Krankenschwester auf einer Intensivstation gearbeitet und koordiniert jetzt die praktische Ausbildung am EvKB. „Als Pflegefachkraft muss man auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichen Situationen gut und sicher kommunizieren können“, sagt sie. „Das Sprachniveau B2, also der selbstständige Sprachgebrauch, ist dafür erforderlich. Wir haben den Workshop bewusst auf Deutsch durchgeführt, um mit den Studierenden Sprachbarrieren gemeinsam zu überwinden. Deren Aufgeschlossenheit dafür hat mich begeistert.“
Auch FH-Koordinator Sebastian Neuhaus-Ewering zeigt sich beeindruckt, besonders von der „enormen Auffassungsgabe und Analysefähigkeit der Teilnehmenden“. „Sie arbeiten sich selbst in komplett neue Themenfelder sehr schnell und gründlich ein“, erzählt er. „Unsere Hochschulangebote nehmen sie zielstrebig wahr. Man darf ja nicht vergessen, dass die Studierenden auch mit psychischen Belastungen zu kämpfen haben, als Kriegsflüchtlinge sind sie möglicherweise traumatisiert und stehen vor einer ungewissen Zukunft. Mit diesen vielfältigen Belastungen gehen sie gut um. Und nicht zuletzt aufgrund ihrer teils äußerst umfangreichen medizinischen Vorkenntnisse bin ich inzwischen davon überzeugt, dass sie in der Lage sind, erfolgreich ihre Abschlüsse und im deutschen Gesundheitssystem Karriere zu machen.“