Mehr Zuwendung, mehr Eigenverantwortung: Initiative „Zukunftsbild Pflege“ präsentiert beim 21. OWL Forum Gesundheitswirtschaft die Ergebnisse der Bielefelder Bürgerbefragung zur Pflege der Zukunft.
Die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen steigt. Und unausweichlich dazu steigt auch der Mangel an Pflegefachkräften. Eine grundsätzlich alternde Gesellschaft sorgt ebenso dafür, dass sich Erwartungen an Pflege verändern. Die Gestaltung der Pflege in der Zukunft gehört daher zu den größten gesellschaftlichen Aufgaben der kommenden Jahre in Deutschland. Es müssen neue Formen der Pflege entwickelt und innovative Konzepte erprobt werden. Die Initiative „Zukunftsbild Pflege“ hat die Bielefelderinnen und Bielefelder gefragt, wie sie sich die Pflege der Zukunft vorstellen. Beim 21. OWL Forum Gesundheitswirtschaft wurden jetzt die Ergebnisse der Bielefelder Bürgerbefragung zur Pflege der Zukunft vorgestellt.
Die Gestaltung der Pflege gehört zu den größten gesellschaftlichen Aufgaben der kommenden Jahre. Die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen steigt, gleichzeitig nimmt auch der Mangel an Pflegefachkräften zu. Diese Entwicklung macht Experten schon länger Sorgen. Aber was sagen die Bürgerinnen und Bürger zur Pflege der Zukunft? 1.500 Bielefelder Bürgerinnen und Bürger haben sich in den letzten Wochen an der Umfrage „Zukunftsbild Pflege“ beteiligt. Die Ergebnisse wurden nun von den Initiatoren vorgestellt. Dabei wurden zahlreiche Ideen und Vorschläge eingebracht, wie die Pflege der Zukunft auch praktisch aussehen sollte. Prof. Dr. Ingo Ballschmieter, wissenschaftlicher Leiter von Open Innovation City, zeigte sich beeindruckt: „Die Resonanz, vor allem aber das hohe Engagement der Teilnehmer, die viele kreative und lösungsorientierte Vorschläge gemacht haben, zeigt, wie hoch die Bereitschaft der Stadtgesellschaft ist, das Thema Pflege vor Ort aktiv mitzugestalten und voranzubringen. Dieses Potenzial werden wir nutzen und in Kürze zum direkten Austausch einladen.“ Nach der Befragung sollen Bürgerdialoge in den Bielefelder Stadtteilen folgen. Die ersten Veranstaltungen sollen im ersten Quartal 2023 starten.
Gute Pflege noch besser sichtbar machen, Gesundheitskompetenz der Menschen stärken
Dr. Charlotte Sahin, Projektleiterin beim Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaf (ZIG) OWL, präsentierte die Einzelergebnisse der Umfrage. Viele Resultate decken sich mit anderen Forschungsergebnissen, die Befunde der Bürgerbefragung verdeutlichen vor allem den Handlungsbedarf für die Stadt Bielefeld. So ist der Großteil der Befragten offensichtlich zufrieden mit dem Pflegeangebot. Das Problem: Für fast die Hälfte der Befragten sind die vorhandenen Angebote zur Pflege und zur Gesundheitsförderung nicht bekannt. „Hier müssen wir dringend daran arbeiten, deren Sichtbarkeit zu verbessern. Gerade im digitalen Bereich haben wir schon einige gute Lösungen entwickelt, von denen aber offensichtlich noch zu wenige Menschen wissen“, vermutet Ingo Nürnberger, Dezernent für Soziales und Integration und Erster Beigeordneter der Stadt Bielefeld.
Dabei sind laut Befragung die Menschen der Stadt auch neuen Technologien gegenüber sehr offen. Fast drei Viertel der Befragten finden es gut, wenn dank digitaler Anwendungen pflegende Personen mehr Zeit für die Betreuung haben. Fast die Hälfte der Befragten schätzt die Möglichkeit, durch digitale Medien den Kontakt zu Angehörigen aufrecht zu erhalten. Ungeachtet dessen sind sich die Befragten in einem Punkt fast durchgängig einig: Technik kann die Pflegekraft nur unterstützen und ergänzen, nicht aber verdrängen (83%). Knapp 40% der Befragten legt großen Wert auf gut ausgebildete und mit ausreichenden Zeitkapazitäten versehene Pflegekräfte, eine Forderung, die einher geht mit dem Wunsch nach Selbstbestimmtheit (66%) und einem möglichst langen Aufenthalt in der eigenen Häuslichkeit (32%). Auch in diesem Punkt liefern die Antworten der Befragten wichtige Impulse. So sind für viele innovative Wohnangebote wie Mehrfamilienhäuser oder Pflege-WGs, ergänzt durch zentral gelegene und niederschwellige Informations- und Beratungsstellen, durchaus mögliche Zukunftsszenarien. „Solche Modelle funktioniert aber nur, wenn Wohnsituation, das soziale Miteinander und die professionelle Pflege gut aufeinander abgestimmt sind und wir mit unseren Pflegeangeboten direkt in die Quartiere gehen“, erläutert Pastorin Dr. Johanna Will-Armstrong, Vorstandsmitglied der v. Bodelschwingschen Stiftungen Bethel.
OWL als in Vorreiterrolle für mehr Patientenorientierung und bessere Beteiligung im Gesundheitssystem
Mit der direkten Beteiligung der Stadtgesellschaft in Fragen zur Weiterentwicklung des Pflegesystems hat die Initiative „Zukunftsbild Pflege“ einen wichtigen Impuls gesetzt. Eine vorbildliche Aktion, für die Stefan Schwartze, Mitglied des Bundestages und Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Patientinnen und Patienten, in seiner der Präsentation vorhergehenden Keynote lobende Worte fand: „In einem zunehmend komplexer werdenden Gesundheitssystem, das von Jahr zu Jahr weiterwächst, wird es für den Einzelnen immer schwieriger, sich zu orientieren, zumal ihm immer mehr Eigenverantwortung zugewiesen wird. Daher brauchen wir den mündigen Patienten, der sich mit unserer Unterstützung aktiv in den Prozess einbringt. An diese Idee knüpft die Bürgerbefragung nahtlos an.“ Ohnehin sieht er die Region Ostwestfalen-Lippe in einer Vorreiterrolle, wenn es um das Erproben von neuen und zukunftsweisenden Konzepten für die Gesundheitswirtschaft geht. Hierfür seien die Patientenlosen, die schon seit Jahren in der Region zum Einsatz kommen, ebenso gute Beispiele wie die seit kurzem in Betrieb genommenen Gesundheitskioske in Hörstmar (Lemgo) und Loxten (Versmold). Beide Ansätze seien zukunftsweisend, da sie nicht nur die Gesundheitskompetenz des Einzelnen stärken, sondern auch an dessen Eigenverantwortung appellieren würden, wenn es um das Thema Gesundheitsversorgung geht – und genau da müsse man im patientenorientierten Gesundheitssystem hinkommen.
Neue Versorgungsmodelle: Bisherige Strukturen reichen nicht aus
Doch reichen solche Reformansätze aus, um die gegenwärtige schwierige Situation in den Griff zu bekommen? Aus Sicht von Dr. Ulli Polenz, seit fast 40 Jahren niedergelassener Arzt in Paderborn-Wewer und einer der Experten, die sich in der abschließenden Podiumsdiskussion dieser Frage stellte, eher nicht. „Natürlich sind diese Formate als Ergänzung zum bestehenden System wichtig, können es aber nicht ersetzen. Wir müssen die hausärztliche Versorgung im Blick behalten und sehen, dass wir die hier auftretenden strukturellen Probleme in den Griff bekommen.“ Für Günter Hölling von der Patientenstelle im Gesundheitsladen Bielefeld e.V. erschwert derzeit ohnehin weniger der Informationsmangel die Situation als vielmehr die oftmals auftretenden Probleme in der deren Anwendung. „Oft hilft der Anruf bei der Hotline oder die Websuche bei Google den Betroffenen nicht weiter. Sie brauchen eher die Beratung vor Ort, die ihnen erklärt, wie sie die Information einsetzen und nutzen.“ Auch Anja Rethmeier-Hanke, Stabsstelle Medizinische Steuerung und Entwicklung am Klinikum Lippe, das den Gesundheitskiosk Hörstmar mit betreibt, geht es in ihrer Arbeit vor allem darum, die Gesundheitskompetenz des Einzelnen wieder aufzubauen, „die in den letzten Jahren schon dramatisch abgenommen hat.“
Zumindest in einem Punkt, formuliert von Dr. Michael Brinkmeier, Vorstandsvorsitzender Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe Gütersloh, waren sich jedoch alle Diskussionsteilnehmer einig: „Letztlich geht es doch immer darum, das Vertrauen des Menschen zu erlangen, um den wir uns kümmern. Nur wenn das gelingt, hat unsere Arbeit auch Aussicht auf Erfolg.“ Auf vertrauensvolle Zusammenarbeit setzen auch die Partner der Initiative „Zukunftsbild Pflege“, zu denen neben dem ZIG OWL (ZIG) und dem Forschungsprojekt Open Innovation City auch die Stadt Bielefeld, die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und die Arbeitsgemeinschafft Bielefelder Wohlfahrtsverbände zählen. Die Initiative will die begonnene Diskussion weiterführen und lädt ab Januar 2023 zu den Bürgerforen in den Stadtteilen ein.