Was sind das für Schmerzen? Muss ich damit zum Arzt? Eine Reihe von „Erklär-Videos“ soll Menschen mit Handicap dazu anregen, ihre Gesundheitskompetenz zu verbessern. Bei dem Projekt der FH Bielefeld brachten Menschen mit Handicap als Co-Forschende ihre Erfahrungen mit ein.
Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung fällt es häufig nicht leicht, ihren Gesundheitszustand richtig zu beurteilen: Manchmal fehlen ihnen einfach die Worte. Oder sie wissen nicht, wo sie Informationen herbekommen, wenn sie schlecht schlafen. Oder Scham hindert sie daran, aktiv zu werden, wenn es irgendwo unangenehm juckt.
Ein Projekt der Fachhochschule (FH) Bielefeld hat sich 2020 darangemacht, dieses Problem konkret anzugehen. Prof. Dr. Änne Dörte-Latteck und Prof. Dr. Norbert Seidl vom Fachbereich Gesundheit beschäftigen sich schon länger mit den Lebenswelten von Menschen mit Handicap. Sie zeichnen nun verantwortlich für eine Reihe von acht sogenannten Kompetenzvideos. Das sind „Erklär-Videos“, welche die Gesundheitskompetenz dieser diversen sozialen Gruppe gezielt stärken sollen.
Dieter wählt in der Nacht den Notruf, Petra ist ständig müde
„Videos sind vom Zugang her ein niedrigschwelliges Angebot“, sagt Dr. Dirk Bruland vom Institut für Bildungs- und Versorgungsforschung im Gesundheitsbereich (InBVG) an der FH Bielefeld, der das Projekt leitet. Kleine Geschichten rund um typische Beschwerden werden hier erzählt, und liebevoll animierte Figuren spielen darin mit. Da ist etwa Dieter, der in der Nacht aufwacht, weil er nicht mehr richtig atmen kann, und dann vorbildlich den Notruf 112 wählt. Petra dagegen ist ständig müde und weiß nicht warum. Nachdem Hausarzt und Therapeut die Ursache dafür nicht finden konnten, hilft ihr schließlich der Facharzt mit dem passenden Schilddrüsen-Medikament. Und Melek tut etwas für ihr allgemeines Wohlbefinden: mit viel frischer Luft, guten Gesprächen und sportlichen Aktivitäten.
Lockere Animationsfilme, aber wissenschaftlich fundiert
So locker wie diese Clips daherkommen, so lang und aufwendig war der Weg bis zum Endergebnis. Denn die Arbeit sollte wissenschaftlich fundiert sein. Am Anfang standen eine umfangreiche Literaturrecherche und 14 qualitative Interviews mit Menschen mit Handicap. Erst dann begann die eigentliche Arbeit der „Forschungs-AG“.
Diese Gruppe bestand in der Hauptsache aus fünf „Co-Forschenden“: drei Frauen und zwei Männer aus der Eingliederungshilfe der Diakonischen Stiftung Wittekindshof in Bad Oeynhausen, zwischen 45 und 64 Jahre alt. Matthias Voß, an der FH Bielefeld Experte für die Konzeption von Schulungsprogrammen für Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung, vervollständigte die Forschungs-AG: „Meine Aufgabe bestand vor allem darin, die Kommunikationsprozesse zu gestalten und damit lebensweltliche Erfahrungen der Menschen mit Handicap einzubinden“, sagt Voß.
Co-Forschende mit Handicap haben ihre Erfahrungen eingebracht
Organisatorisch war das im Corona-Jahr 2020 eine mächtige Herausforderung. Galt es doch erst einmal, bei allen die technischen Voraussetzungen für Videokonferenzen zu schaffen. Ein Vorteil war dagegen, dass die Co-Forschenden schon zuvor im Bereich Medikamenten-Management in einem ähnlichen Projekt aktiv gewesen waren.
So ging der Prozess von Online-Meeting zu Online-Meeting stetig voran: Die Vogelsänger Studios – versierter Medienpartner der FH Bielefeld – präsentierten ihre Entwürfe der Gesundheitskompetenz-Videos, die sie auf Grundlage der von den Wissenschaftlern gefilterten Datenanalyse entwickelt hatten. Die Mitglieder der Forschungs-AG beurteilten die Filme im Hinblick auf die Inhalte, die Farbgebung, die Symbolik, das Sprechtempo und vieles mehr. „Die Co-Forschenden habe uns konkrete Hinweise und wertvolle Anregungen gegeben“, sagt Projektleiter Bruland. „Die sind dann in die überarbeiteten Versionen eingeflossen. Die fertigen Fassungen der Videos wurden schließlich von der gesamten Gruppe abgenommen.“
Eine randomisierte Studie prüft die Wirksamkeit der Videos
Aber helfen die Videos Menschen mit Handicap tatsächlich dabei, sich in Fragen der Gesundheit besser zu informieren und sich der Familie, Freunden, Betreuern und Ärzten kompetenter mitzuteilen? „Das finden wir gerade heraus“, sagt Dirk Bruland. Stichwort: randomisierte klinische Studie. Dazu wurden über 140 gehandicapte Menschen aus sozialen Einrichtungen in NRW und Niedersachsen ausgewählt und nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt. Die einen bekamen die Videos zu sehen, die anderen nicht. Im Anschluss haben alle Fragebögen beantwortet, mit denen man die Gesundheitskompetenz messen kann. „Jetzt werten wir die Ergebnisse aus und sind schon sehr gespannt“, so Bruland.
„Wissenschaftlich ist die standardisierte Befragung aufgrund der Bedürfnisse der Befragten eine methodische Herausforderung“, ergänzt Prof. Dr. Norbert Seidl. „Aber wir haben es geschafft, nah an die Lebenswirklichkeit der Menschen heranzukommen. Darauf sind wir schon einmal stolz!“
Ergebnisse Teil einer Förderleitlinie zur Stärkung der Gesundheitskompetenz“ des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG)
Egal wie die Wirksamkeitsstudie ausfällt – ein durchschlagender Erfolg waren die Gesundheitskompetenz-Videos für Bruland und sein Team bereits jetzt. „Wir haben viel positives Feedback aus verschiedensten Bereichen erhalten“, sagt der Wissenschaftler. Vorstellbar sei, den Stil der Videos mit ihrer einfachen Sprache und ihren klaren, gut gelaunten Bildwelten auf andere Themenfelder zu übertragen, etwa zur Unterstützung von Geflüchteten oder Kindern. „Und in jedem Fall werden die Ergebnisse des Projekts mit einfließen in den nationalen Aktionsplan für Gesundheitskompetenz des Bundesgesundheitsministeriums“, sagt Prof. Dr. Änne-Dörte Latteck. Bei diesem Aktionsplan geht es u.a. um effektive, zielgruppengerechte Informationskonzepte für Gesundheitskompetenz. Das BMG wird die erstellten Videos dann auch im kommenden Jahr veröffentlichen.
Co-Forschende haben gezeigt, dass sie etwas schaffen können
Auch die Co-Forschenden haben von ihrer Tätigkeit stark profitiert. So sagt Jochen Peter: „Meine Erfahrung mit meinem Gesundheitszustand konnte ich weitergeben und fühle mich dabei nicht als Prof. Dr. So-und-so, sondern als Jochen, Mensch wie du und ich. Wir haben gezeigt, dass wir etwas lernen und etwas schaffen können. Wir haben die Chance genutzt!“ Und Stefanie Rau ergänzt: „Ich zeige den Menschen auf diese Weise: Ich kann ´was und setze mich auch für andere Leute ein.“ Wenn alles nach Plan läuft, können sie sich „ihre“ Arbeit ab März 2023 im Internet anschauen.