In einem Interview nimmt Georg Milbradt, ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen, Bezug auf Roman Herzogs jüngste Mahnung vor einem europäischen Zentralstaat. Roman Herzog beklagte, dass ein EU-Recht von 60.000 bis 70.000 Seiten „in der Tendenz nicht mehr viel mit einem Rechtsstaat zu tun“ hat.
Peter Schmidt: Hat Altbundespräsident Roman Herzog recht, wenn er in einem kürzlich gegebenen Interview erklärt, dass ein EU-Recht von 60.000 bis 70.000 Seiten „in der Tendenz nicht mehr viel mit einem Rechtsstaat zu tun“ hat.
Georg Milbradt:Ich stimme der Beurteilung zu, weniger wäre mehr. Die EU sollte, wie in einem Bundesstaat üblich und im Maastrichter Vertrag ausdrücklich vorgeschrieben, das Subsidiaritätsprinzip beachten und sich auf das für die Union, insbesondere für den gemeinsamen Binnenmarkt, Notwendige beschränken. Leider haben wir in Europa kein Verfassungsgericht, das über die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips wacht, sondern nur einen Europäischen Gerichtshof, der sich als Motor der Integration begreift, worauf Altbundespräsident Herzog, der ja einmal selbst Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts war, schon früher hingewiesen hat. Das Ziel einer immer engeren Union (ever closer union) darf nicht als Vorwand benutzt werden, das Subsidiaritätsprinzip faktisch auszuhebeln. Die deutschen Bundesländer, die durch den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel im EU-Verfassungskonvent vertreten waren, haben die Beachtung und die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips zu einer wesentlichen Bedingung für die Zustimmung zum Lissabonner Vertrag gemacht.
Peter Schmidt: Warum steht Roman Herzog mit seiner Ansicht in der deutschen Politik so alleine?
Georg Milbradt: Kritik an Maßnahmen der EU gelten in der deutschen politischen Klasse oft als politisch nicht korrekt, da das europäische Einigungsprojekt den Frieden sichere und alternativlos sei. Eine kritische Auseinandersetzung über das Wie der weiteren europäischen Einigung muss aber erlaubt sein, sie ist unverzichtbar. Es muss daher auch möglich sein, einen mit besten Absichten eingeschlagenen Weg zu hinterfragen, wenn er sich als wenig geeignet oder gar als Sackgasse herausstellt. Wir müssen dann auch den Mut haben, wieder einen Schritt zurückzugehen, um einen anderen Weg einzuschlagen. Das oft gehörte Argument, wir brauchen „mehr Europa“, also einen weiteren Transfer von Souveränitätsrechten auf die EU darf dem nicht entgegenstehen. Wir müssen uns zuvörderst darüber einigen, was für ein Europa wir wollen, was für Aufgaben es unbedingt erledigen muss und welche Zuständigkeitsverteilung dazu notwendig ist. Die Richtigkeit des Weges kann man nur beurteilen, wenn man das Ziel kennt. Beim Einigungsprozess geht es nicht ausschließlich um mehr Europa sondern um ein besser konstruiertes Europa. Ein zentralistisches Europa ist weder notwendig oder wünschenswert, noch in Europa mehrheitsfähig. Ich kann mir Europa nur als eine Föderation vorstellen, die auf dem Prinzip der Autonomie und Verantwortlichkeit der Mitgliedsstaaten aufbaut, so wie zum Beispiel in den USA und der Schweiz.
Peter Schmidt: Für viele Bürger werden Europa und seine Bürokratie immer undurchschaubarer. Sie fühlen sich nicht mitgenommen. Besteht hier die Gefahr eines Nationalismus, der Europa zerstört?
Georg Milbradt: Unbestreitbar haben die Europäischen Institutionen trotz der Aufwertung des Europäischen Parlaments immer noch ein Demokratiedefizit. Für den Bürger sind die nationalen Regierungen und Parlamente immer noch der Hauptansprechpartner, hier kann der Bürger die Richtung mitbestimmen. Auf der europäischen Ebene ist das sehr viel schwieriger. Demokratie heißt Herrschaft des Volkes. Ein europäisches Volk gibt es aber nicht, sondern nur europäische Völker. Es gibt bisher auch keine europäische Öffentlichkeit, sondern nur nationale Öffentlichkeit, insbesondere mangels einer gemeinsamen Kommunikationssprache. Das ist der wesentliche Unterschied zu den USA. Das Motto des amerikanischen Wappens lautet daher „E pluribus unum – aus vielen eins“, das Motto der EU ist demgegenüber „in varietate concordia“ – offiziell als „in Vielfalt geeint“ übersetzt. Wir müssen ein Europa bauen, das auf die Unterschiedlichkeit Rücksicht nimmt. Die demokratische Legitimation beruht immer noch auf den Nationalstaaten. Die oft in intellektuellen Kreisen anzutreffende Vorstellung, der Nationalstaat habe sich überholt, wird der Realität in den meisten europäischen Ländern nicht gerecht. Das wird auch auf absehbare Zeit so bleiben. Deswegen sind wir gut beraten, diese Zusammenhänge zu beachten.
Europa sollte sich in eigenem Interesse auf das wirklich Wichtige beschränken und nicht alles und jedes versuchen zu regeln. Gerade wenn man die Zunahme eines gefährlichen Nationalismus und einer Europafeindlichkeit verhindern will, ist es notwendig, berechtigte Kritik an einer zu starken Zentralisierung und Reglementierung durch Brüssel ernst zu nehmen. Kritiker auszugrenzen und als Nationalisten oder Friedensgegner zu verteufeln, ist ungerecht und für ein gemeinsames Europa kontraproduktiv. Man wird selbstverständlich auch darüber beraten müssen, ob man in einigen Bereichen auch Zuständigkeiten an die Nationalstaaten zurückgibt, so wie es ja Deutschland im Rahmen der Föderalismusreform I zwischen Bund und Ländern im Jahre 2006 getan hat. Das ist ein ganz normaler Vorgang in einem lebendigen Bundesstaat.
Peter Schmidt: Nach den Unterhauswahlen steht uns in nächster Zeit in Großbritannien ein Referendum über die Mitgliedschaft des Landes in der EU bevor. Besteht nicht für Großbritannien bei einem Austritt die Chance, viele, die Wirtschaft einschränkenden Regulierungen, abzuschaffen und ein investitionsfreundliches und wirtschaftsliberales Klima zu schaffen?
Georg Milbradt: Ich hoffe sehr, dass es gelingt, Großbritannien in der EU zu halten. Das erfordert auch von den europäischen Partnern einige Konzessionen. Der Anspruch und die Hoffnung der EU, auf Augenhöhe mit den anderen großen Weltmächten zu stehen, ist ohne das immer noch stark international vernetzte Großbritannien und ohne die City of London nicht zu erreichen. Der Austritt wäre für Europa und insbesondere für Deutschland eine Katastrophe.
Mit unseren Interessen an einem freien Welthandel und unserer marktwirtschaftlichen Philosophie steht uns Großbritannien viel näher als die lateinische Welt, die oft mehr an Staatsinterventionen denkt. Über vieles kann und muss man mit den Briten reden, es gibt eine Reihe von britischen Vorstellungen und Forderungen, die aus deutscher Sicht sinnvoll sind. Auch Vertragsänderungen sollte man nicht a priori ausschließen, obwohl sie wegen der notwendigen Einstimmigkeit schwer zu erreichen sein werden. Schlimm wäre es, wenn nach einem Austritt Großbritanniens in Resteuropa die Kräfte für Protektionismus und der Staatsgläubigkeit endgültig die Oberhand zu Lasten der freiheitlichen Kräfte gewinnen. Dieses Europa verlöre seine Zukunftsfähigkeit und wäre zum Untergang verurteilt.