Gütersloh. Trotz aktueller Einwanderungsrekorde fordert die Bertelsmann Stiftung eine strategische Neuausrichtung der Einwanderungspolitik. „Deutschland braucht künftig mehr qualifizierte Einwanderer denn je, ist aber vor allem für Nicht-EU-Ausländer zu unattraktiv“, sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.
Er warnte davor, sich darauf zu verlassen, dass der Zuzug aus den südeuropäischen Krisenstaaten unvermindert anhält. Um dauerhaft mehr Fachkräfte ins Land zu locken, empfiehlt die Stiftung ein Paket aus neuen Einwanderungsregeln, reformiertem Staatsbürgerschaftsrecht und besserer Willkommens- und Anerkennungskultur. Gelingt dies, so eine aktuelle Studie, werden Sozialsysteme und Arbeitsmarkt noch stärker von Einwanderung profitieren als sie das ohnehin bereits tun.
In ihrem Konzeptpapier attestiert die Bertelsmann Stiftung der deutschen Einwanderungspolitik zwar eine Öffnung über die Jahrzehnte hinweg, allerdings folge sie vom Grundsatz noch immer der Logik des Anwerbestopps aus den 70er Jahren. „Wir schaffen eine rechtliche Ausnahme nach der anderen, anstatt Einwanderung als erwünscht und normal zu betrachten“, sagte Dräger: Aus dieser Haltung resultiere ein Steuerungsdefizit, das dafür verantwortlich sei, dass lediglich 17.000 der mehr als 300.000 Einwanderer im Jahr 2011 Fachkräfte von außerhalb der EU waren. Zudem haben vier von zehn Drittstaatlern, die 2009 nach Deutschland eingewandert sind, das Land bereits wieder verlassen. „Es kommen zu wenige, und die wenigen bleiben nicht lange genug“, sagte Dräger.
Dauerhafte und verlässliche Einwanderung wird für Deutschland vor allem aufgrund seiner demographischen Entwicklung immer bedeutender. Herbert Brücker, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bamberg und Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), weist in einer aktuellen Studie für die Bertelsmann Stiftung darauf hin, dass ohne Einwanderung das Potenzial an Erwerbstätigen bis 2050 von heute 45 auf 27 Millionen Menschen sinkt.
Die Studie belegt, dass der Sozialstaat von Einwanderung nicht belastet wird, sondern profitiert. Bilanziert man alle staatlichen Transferleistungen, ergibt sich fiskalisch schon heute ein Nettogewinn für den Sozialstaat, der mit der Alterung der Bevölkerung steigen wird. Diese Wohlfahrtsgewinne werden sich desto günstiger entwickeln, je mehr und je qualifiziertere Einwanderer nach Deutschland kommen. Insbesondere die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme wie Renten-, Pflege- und Krankenversicherung verzeichnen erhebliche Gewinne. „Das Plus in den Sozialkassen, das Mitte der 2000er Jahre auf jährlich 2.000 Euro pro Einwanderer taxiert wurde, liegt bei den Neueinwanderern deutlich höher“, sagte Brücker. Zudem errechnet er, dass zusätzliche Einwanderung nicht zu einer höheren Arbeitslosigkeit führt, im Gegenteil: Je nach Qualifikationsniveau würde die Arbeitslosenquote um bis zu 0,12 Prozent sinken. Brücker kommt in seiner Studie auch zu dem Ergebnis, dass zusätzliche Einwanderung sich nicht negativ auf das Lohnniveau auswirkt.
Eine gezielte Steuerung könnte einen Positiv-Trend erheblich verstärken, der seit einem Jahrzehnt zu beobachten ist: Das Qualifikationsniveau der Einwanderer nach Deutschland ist stetig gestiegen. 43 Prozent der Neuzuwanderer zwischen 15 und 65 Jahren brachten im Jahr 2009 einen Hochschul-, Meister- oder Technikerabschluss mit. Das ist nicht nur ein fast doppelt so hoher Anteil wie noch im Jahr 2000 (23 Prozent), sondern sogar mehr als in der deutschen Bevölkerung. Zeitgleich stieg der Anteil der Studenten unter den Neuzuwanderern von 14 auf 23 Prozent. „Die Struktur der Einwanderung nach Deutschland hat sich verändert“, schreibt Professor Brücker.
Diese Entwicklung sei jedoch nur in geringem Maße beeinflusst durch deutsche Einwanderungspolitik, die die Brücker-Studie als vornehmlich reaktiv kennzeichnet: Einwanderung nach Deutschland sei in der Vergangenheit „in der Regel durch politische Großereignisse wie den Fall des Eisernen Vorhangs oder die Bürgerkriege im früheren Jugoslawien ausgelöst“ worden. Nun führen die EU-Osterweiterung und die Wirtschaftskrise in Südeuropa zu massiver Arbeitsmigration nach Deutschland. „Der Anstieg der Einwanderung seit 2007 ist zu 71 Prozent auf die Verschlechterung der ökonomischen Bedingungen in anderen Ländern zurückzuführen“, sagte Brücker.
„Der aktuelle Zuwanderungsboom tut Deutschland gut, ist aber nicht von Dauer. Die Zukunft der qualifizierten Einwanderung liegt außerhalb der EU“, sagte Jörg Dräger. Um Fachkräfte gezielter von außerhalb der EU anzuwerben, schlägt die Bertelsmann Stiftung neue Einwanderungsregeln vor. Ziel des Konzepts ist, Arbeitsmigration aktiv zu steuern. Es unterscheidet zwischen vier Typen von Einwanderern: Hochqualifizierte, Fachkräfte in Mangelberufen, Bildungszuwanderer und temporäre Fachkräfte. Die ersten beiden Gruppen, Hochqualifizierte und Fachkräfte mit Mangelberufen, sollen die „Schwarz-Rot-Gold-Karte“ beantragen können. Sie würde nach einem Punktesystem vergeben, das sowohl das eigene Qualifikationsprofil des Einwanderers als auch die Bedarfe des deutschen Arbeitsmarkts berücksichtigt. Die „Schwarz-Rot-Gold-Karte“ enthält eine unbeschränkte Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung und stellt eine zügige Einbürgerung in Aussicht. Die anderen beiden Gruppen, Bildungszuwanderer und temporäre Fachkräfte, sollen eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten, deren Gesamtzahl flexibel zu steuern ist. Für Studierende mit Perspektive auf einen dauerhaften Verbleib in Deutschland sollte die Aufenthaltsgenehmigung unkompliziert zu verlängern sein.
Diese Einwanderungsregeln, so Dräger, sind ein zentraler, aber eben nur ein Teil einer angestrebten Anerkennungs- und Willkommenskultur. „Attraktiv wird Deutschland nur dann, wenn das Gesamtpaket für Einwanderer stimmt“, sagte Dräger. Lebensqualität, Sicherheit, Infrastruktur und Perspektiven für Angehörige seien ebenso entscheidend wie wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt in ihrem Konzept etwa bessere Sprachförderung, mehr Schutz vor Diskriminierung und leichtere Wege zur deutschen Staatsbürgerschaft. „Die erste Aufgabe ist, gut qualifizierte Einwanderer zu gewinnen – die zweite Aufgabe lautet, sie zu halten“, sagte Dräger.