Berlin (dapd). Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) fordert stärkere Anstrengungen der Bundesregierung im Kampf gegen Antisemitismus. „Die Bundesregierung sollte eine Strategie gegen Antisemitismus vorlegen und die Programme gegen Rechtsextremismus verstetigen“, sagte Thierse der Nachrichtenagentur dapd vor einer Debatte des Bundestages zum Antisemitismusbericht am Mittwoch in Berlin.
Das bisherige Engagement des Bundes reiche nicht aus. „Derzeit ist es so, dass Programme finanziert werden, die nach kurzer Zeit wieder auslaufen“, sagte Thierse. „Dann entstehen Lücken, es fällt Engagement wieder zusammen – das darf nicht so bleiben.“ Ereignisse der vergangenen Wochen wie der Angriff auf einen Rabbiner in Berlin und die Attacke gegen den Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland zeigten „eine wirklich beunruhigende Entwicklung“. Der SPD-Politiker betonte: „Da wird etwas deutlich, was wir nicht mehr beiseite drängen und übersehen dürfen“. Die Bundesregierung müsse darlegen, „was sie unternimmt, um diese Herausforderung anzunehmen. Und darüber sollte in jeder Legislaturperiode im Bundestag debattiert werden.“ Der Bundestagsvizepräsident sagte, sein persönlicher Vorschlag sei, „eine Bundesstiftung zu gründen, in die der Bund, die Länder und Kräfte der Zivilgesellschaft Geld einbringen, aus dem dann alle Aktivitäten gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus finanziert werden“. So könne auch Kontinuität in der Bekämpfung menschenfeindlicher Einstellungen gegen Minderheiten erreicht werden. Thierse forderte zugleich die sofortige Abschaffung der sogenannten Extremismusklausel. „Ich halte es nicht für sinnvoll, den Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus wehren, mit dem Verdacht auf linksextreme Verfassungsfeindlichkeit zu begegnen. Das fördert nicht Engagement, das behindert Engagement“, betonte der SPD-Politiker. Die umstrittene Klausel verpflichtet Initiativen, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen und eine entsprechende Erklärung auch für alle Partner, mit denen sie zusammenarbeitet, abzugeben. Der „Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“ liegt seit einem Jahr vor. Die Wissenschaftler waren 2009 vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) infolge eines Bundestagsbeschlusses berufen worden. Im November 2008 hatten Union, SPD, FDP und Grüne sowie die Linke in zwei gleichlautenden Anträgen gefordert, anlässlich des 40. Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. November 1938 den Kampf gegen Antisemitismus zu verstärken. Nach Einschätzung der Wissenschaftler weisen heute etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland antisemitische Tendenzen auf. Dabei gilt „das rechtsextremistische Lager als nach wie vor wichtigster Träger des Antisemitismus“. Die Experten kritisieren in dem Bericht, dass das Vorgehen gegen den Antisemitismus weitgehend unkoordiniert sei. Eine umfassende Strategie gegen Antisemitismus in Deutschland existiere nicht.