Berlin (dapd). Um viertel vor zwölf kommt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu ihrem Arbeitsplatz im Bundestag. Sie zieht eine blaue Aktenmappe mit ihrer Rede aus einer roten Handtasche und setzt sich auf ihren Kanzlersessel. Es spricht der CDU-Abgeordnete Volkmar Klein – über den Etat für Entwicklungshilfe. Plötzlich steht Merkel auf und eilt zu den Bänken der Opposition. Sie schüttelt SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann und Parteichef Sigmar Gabriel die Hand. Die Kanzlerin konnte sich bei der Euro-Rettung stets auf die Sozialdemokraten verlassen. Jetzt freut sie sich gemeinsam mit den Genossen über das grüne Licht aus Karlsruhe für den Euro-Rettungsfonds ESM und den Fiskalpakt. Die Generaldebatte über den Haushalt 2013 stand diesmal ganz im Zeichen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die internationale Politik und die Finanzmärkte warteten mit Spannung auf das Urteil, die Bundestagsabgeordneten nicht minder. Der Hammer hing mal wieder in Karlsruhe. Und am Ende waren die Volksvertreter froh, dass die Richter ihre Rechte stärkten. Weil die Entscheidung für die Generaldebatte abgewartet werden sollte, begann die Sitzung am Mittwoch um 10 Uhr zunächst mit der Aussprache über das Budget des Entwicklungsministeriums. Bundestagsvizepräsident Eduard Oswald (CSU) freute sich: „Wenn man bedenkt, was zu dieser Stunde für Ereignisse sind, ist die Besetzung doch sehr groß.“ Vor dem allerdings doch ziemlich spärlich besetzten Plenum lobte sich Ressortchef Dirk Niebel (FDP) dann in gewohnt bescheidener Art selbst. Unter seiner Führung habe Deutschland bei der Entwicklungshilfe „den Aufstieg in die höchste internationale Spielklasse geschafft“. Ein Viertelstunde später – die SPD-Abgeordnete Bärbel Kofler knöpfte sich gerade den bürokratischen Apparat von Niebels Ministerium vor – war die Eilmeldung aus Karlsruhe da. Gebannt blickten die Staatssekretäre, die für ihre Minister die Regierungsbank besetzt hielten, und viele Abgeordnete auf ihre Handys und Tablets. Die Linke-Parlamentarierin Heike Hänsel sprach es aus: „Wir diskutieren heute den Entwicklungshaushalt, aber alle Augen schauen nach Karlsruhe.“ Während das Plenum noch über die Entwicklungspolitik diskutierte, gaben in der Lobby des Reichstagsgebäudes Spitzenpolitiker erste Interviews zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Linke-Fraktionschef Gregor Gysi bedauerte zwar, dass er an diesem Tag keinen „Hubschrauber“ gehabt habe, der ihn von Karlsruhe nach Berlin bringt, äußert sich über das Urteil aber eher zufrieden. Der Jurist freute sich über die völkerrechtlichen Vorbehalte der Haftung und über die Stärkung der Rechte des Parlaments. Das sollte er später vor dem Plenum wiederholen. Der CDU-Abgeordnete und Eurorettungskritiker Wolfgang Bosbach dagegen wetterte in die Kameras: „Der Zug rollt unaufhörlich in eine Richtung, zur Vergemeinschaftung von Schulden.“ Karlsruhe habe zwar die Rechte der Parlamentarier gestärkt, aber zugleich den „Schlussstein“ auf dem Weg zur Transferunion gelegt. FDP-Chef und Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler kam federnden Schrittes angelaufen und lobte das „stabile Bollwerk“, dass das Gericht rings um den Euro errichtet habe. Nachfragen gab es da erstmal keine. Der SPD-Chef Gabriel schließlich freute sich über die „gute Nachricht für Millionen von Arbeitnehmer“ in Deutschland. Zugleich zog er eine neue sozialdemokratische Sprachregelung für die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank aus dem Ärmel: „Die EZB kauft Zeit für den Wahlkampf von Frau Merkel.“ Und in der Tat, die Kanzlerin sorgte später vor dem Plenum für Erstaunen, als sie die Anleihekäufe der EZB pries: „Wir empfinden das als Unterstützung unseres Kurses.“ Zuvor hatte sie bereits die Karlsruher Richter belobigt für ihr „starkes Signal nach Europa und darüber hinaus“. Und schließlich rühmte eine angriffslustige und hellwache Kanzlerin die schwarz-gelbe Koalition, die „super gearbeitet“ und Deutschland zum Stabilitätsanker und Wachstumsmotor in Europa gemacht habe: „Wir wollen, dass Deutschland menschlich und wirtschaftlich erfolgreich ist.“ Merkels Fazit: „Das ist ein guter Tag für Deutschland und ein guter Tag für Europa.“ Auch Steinmeier lobte die „guten Nachrichten“ aus Karlsruhe, ging mit Schwarz-Gelb aber harsch ins Gericht: „Sie wollten diese Regierung, aber sie konnten nichts anfangen damit“, rief er Union und FDP zu. „Wir haben keine Zeit für diesen Dauerstreit innerhalb der Koalition“, sagte der SPD-Fraktionschef und warnte: „Mit dieser Regierung läuft uns die Zeit davon.“ Steinmeier schloss mit den Worten: „Das ist zu wenig für Deutschland. Das ist zu wenig für Europa.“ Auch Grünen-Fraktionsschefin Renate Künast warf Merkel Untätigkeit vor: „In diesem Land haben viele langsam die Nase voll von dieser Inszenierung von Politik.“ Wenn die Kanzlerin von einem großen Tag für Europa spreche, sei auch dies wieder „abgeleitet von den Aktivitäten anderer“, fügte sie mit Blick nach Karlsruhe hinzu. „Nichts, was sich positiv entwickelt hat, beruht auf Schwarz-Gelb.“ In einer kämpferischen Rede, mit der sie sich für die Spitzenkandidatur der Grünen empfahl, sagte Künast voraus: „So werden Sie in die Geschichte nicht eingehen, Frau Merkel.“ FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle nutzte die Generaldebatte einmal mehr zur Attacke pur. In der Euro-Krise räume die Koalition „die Scherben rot-grüner Politik weg“. Dem Lob der Kanzlerin für die EZB wollte sich Brüderle dann aber nicht anschließen. Die FDP teile die Bedenken von Bundesbankpräsident Jens Weidmann gegen die Anleihekäufe. Die Notenpresse sei „wirtschaftspolitisches Morphium.“ Die europäische Linke aber verbünde sich mit der Wall Street. Merkel gähnte. dapd (Politik/Politik)
Alle Augen schauen nach Karlsruhe
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Peer-Michael Preß
Peer-Michael Preß – Engagement für die Unternehmerinnen und Unternehmer in der Region seit fast 20 Jahren. Als geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens Press Medien GmbH & Co. KG in Detmold ist er in den Geschäftsfeldern Magazin- und Fachbuchverlag, Druckdienstleistungen und Projektagentur tätig. Seine persönlichen Themenschwerpunkte sind B2B-Marketing, Medien und Kommunikationsstrategien. Sie erreichen Peer-Michael Preß unter: m.press@press-medien.de www.press-medien.de Alle Beiträge von Peer-Michael Preß anzeigen