Berlin (dapd). Fünf Wochen vor Fußball-EM wächst der Druck auf das autoritäre Regime in der Ukraine. SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte, alle deutschen Politiker sollten die Spiele dort boykottieren. Kanzlerin Angela Merkel will laut „Spiegel“ ihren Ministern empfehlen, dem Turnier fernzubleiben, wenn nicht bis dahin die inhaftierte Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko freigelassen wird. Deren Tochter Eugenia bat in einem dramatischen Appell die Bundesregierung um Hilfe.
Die frühere Regierungschefin Timoschenko verbüßt eine siebenjährige Haftstrafe wegen Machtmissbrauchs. Der Westen kritisiert das Urteil als politisch motiviert. Die 51-Jährige befindet sich seit einer Woche im Hungerstreik und ist offenbar ernstlich krank. Nach Angaben ihres Anwalts wurde sie von Gefängniswärtern geschlagen.
Ein weiteres Verfahren gegen Timoschenko wegen des Vorwurfs der Unterschlagung von mehreren Millionen Euro in ihrer Zeit als Vorsitzende eines Energieunternehmens wurde am Wochenende auf den 21. Mai verschoben. Ihre Anwälte erklärten, ihre Mandantin sei prozessunfähig und müsse im Ausland behandelt werden – so wie auch von Ärzten der Berliner Charité empfohlen.
Ihre 32-jährige Tochter Eugenia bat Deutschland um Hilfe. „Retten Sie das Leben meiner Mutter, bevor es zu spät ist“, sagte sie der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich forderte die Ukraine abermals auf, Timoschenko zur Behandlung ausreisen zu lassen. Der CSU-Politiker hatte nach Absprache mit Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) erklärt, er werde an dem Spiel Deutschland gegen die Niederlande in Charkow nur teilnehmen, wenn er vorher Timoschenko besuchen könne.
Auch Außenminister Guido Westerwelle äußerte sich besorgt. „Die Berichte über die Misshandlung von Julia Timoschenko haben mich schockiert“, sagte der FDP-Politiker der „FAS“. Europäische Werte verlangten die Achtung von Grundrechten auch von Inhaftierten. Deutschland setze sich zwar für eine Annäherung der Ukraine an die EU ein. Das gehe aber nicht ohne glaubwürdige Schritte zu mehr Rechtsstaatlichkeit. Die Ukraine richtet gemeinsam mit Polen die Europameisterschaft aus.
Bayern Münchens Präsident Uli Hoeneß empfahl UEFA-Präsident Michel Platini, in Kiew zu protestieren. Auch die deutschen Nationalspieler sollten kritisch Stellung beziehen, meinte er.
Der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach (CDU), sagte der „Welt“, Europa müsse dem Regime in der Ukraine jetzt entschlossen entgegentreten. Der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl forderte nach der Absage des Ukraine-Besuchs von Bundespräsident Joachim Gauck weitere Gesten der Missbilligung durch deutsche Regierungsvertreter. Der Unionsaußenexperte Philipp Mißfelder drohte in der „Rheinischen Post“: „Der Umgang mit Frau Timoschenko wird Konsequenzen haben für den Umgang der EU mit Visa-Erleichterungen für Ukrainer.“
SPD-Chef Gabriel sagte: „Politiker müssen aufpassen, dass sie nicht zu Claqueuren des Regimes werden.“ In den Fußballstadien säße man womöglich neben Gefängnisdirektoren und Geheimpolizisten, sagte er der „Bild am Sonntag“. Solange in der Ukraine Menschen aus politischen Gründen in Haft gehalten und misshandelt würden, könne es keinen normalen Umgang mit dem Land geben. „Unter diesen Umständen kann auch das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht ratifiziert werden.“
Auch FDP-Generalsekretär Patrick Döring erwartet, dass offizielle Delegationen des Bundestages und der Bundesregierung wie auch Gauck die Spiele in der Ukraine meiden. Schon die Vergabe der EM an die Ukraine sei seinerzeit fragwürdig gewesen, sagte Döring.
EU-Justizkommissarin Viviane Reding schloss einen Besuch des EM-Eröffnungsspiels im Juni aus. Die Grünen-Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit und Rebecca Harms forderte von der UEFA eine Erklärung zur Lage in der Ukraine.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe warnte hingegen, dass ein Boykott oft die Falschen strafe. Er sagte der „Welt am Sonntag“, dass die Spiele dazu beitragen könnten, die Willkürjustiz der Regierung Janukowitsch weltweit in den Fokus zu rücken.
Nach der Bombenserie in Timoschenkos Geburtsstadt Dnipropetrowsk, bei der mindestens 30 Menschen verletzt wurden, tappten die ukrainischen Ermittler am Wochenende bei der Suche nach möglichen Drahtziehern noch immer im Dunkeln.